Ines Schwerdtner, 35, ist seit Oktober 2024 neben Jan van Aken Bundesvorsitzende der Linken. Die Publizistin wurde im sächsischen Werdau geboren, wuchs in Hamburg auf. Sie ist Mitgründerin des sozialistischen Magazins „Jacobin“ und war dessen Chefredakteurin. Bei der Bundestagswahl gewann sie das Direktmandat in Berlin-Lichtenberg und landete damit vor AfD-Politikerin Beatrix von Storch.
WELT: Frau Schwerdtner, wann wurden Sie Linke?
Ines Schwerdtner: Mit 16 habe ich gesagt: Die Nazis verteilen Schulhof-CDs, und ich gehe in die Antifa-AG. Das war auf einer Gesamtschule in Hamburg, ein sehr sozialdemokratisches Umfeld. Da war es normal, mit dem Lehrer am Tag der Befreiung vom Faschismus zu demonstrieren. Ich war schon früh ein Politik-Nerd und habe Bundestagsfernsehen geschaut, war schon als Teenagerin immer auf dem 1. Mai. Einmal trat da Gregor Gysi auf. Das war alles nicht die große Tradition der Arbeiterbewegung, es kam einfach so.
WELT: Sie sind in Sachsen geboren, als Kind nach Hamburg gezogen, haben in Berlin und Frankfurt am Main studiert – und wurden Marxistin. Wieso?
Schwerdtner: Meine Eltern haben nach der Wende ihren Job verloren, deswegen sind wir nach Hamburg gezogen. Schon als Kind hat Arbeit und Arbeitslosigkeit eine große Rolle in meinem Leben gespielt. Meine Mutter war Spinnerin, dann Altenpflegerin, ich war als Kind oft mit ihr im Pflegeheim – eine typische Erfahrung von Arbeiterkindern. Bis zu meiner Zeit an der Uni war das entsprechend kein politisches Verständnis. Der Erweckungsmoment kam im Seminar zu Rosa Luxemburg. Die Theorie hat mir das Lebensweltliche eingeordnet. Seitdem bin ich Marxistin.
WELT: Seit Oktober 2024 führen Sie die Linke, schlagen zum anstehenden Parteitag in Chemnitz ein neues Parteikonzept vor: „organisierende Klassenpartei“. Was heißt das?
Schwerdtner: Die Linke muss sich wieder als Partei der Klasse verstehen. Wir sind keine Ansammlung verschiedener Kleinstinteressen, die irgendwie zusammengekommen sind. Dafür müssen wir ein Klassenbewusstsein entwickeln, das uns auch im Wahlkampf schon stark gemacht hat: In unserer Gesellschaft gibt es ein Oben und ein Unten, es gibt Reiche und die breite Bevölkerung. Das sind die Büroangestellte und der Industriearbeiter, die Rentnerin und der Arbeitslose. Die Linke vertritt die Arbeiterklasse und kämpft für die materiellen Interessen all jener, die für ihren eigenen Lohn arbeiten müssen. Wir sollten nicht mehr in Tarnbegriffen reden, sondern von Klasse und demokratischem Sozialismus.
WELT: Arbeiter wählten zuletzt überdurchschnittlich oft die AfD. Wieso?
Schwerdtner: Die AfD hat extrem von der falschen Verknüpfung von Migration und Sicherheitspolitik profitiert. Im Wahlkampf habe ich den Leuten in Lichtenberg und Hohenschönhausen, wo die AfD stark ist, gesagt: Beatrix von Storch und die AfD interessieren sich nicht für eure Probleme – die machen Politik gegen eure Interessen.
Die Linke sollte viel mehr auf die materiellen Probleme der Leute schauen. Hohe Mieten, schlechte Arbeitsbedingungen, niedriger Lohn. Die Leute kamen in unsere Büros zur Sozialsprechstunde, wir haben an Hunderttausenden Haustüren Gespräche geführt. Das werden wir ausbauen: mehr in die Gesellschaft hören, uns in Betrieben verankern. Die arbeitenden Menschen müssen Würde und Respekt zurückbekommen.
WELT: Gerade in Sachsen sieht man dieser Tage wieder eine Neonazi-Jugendbewegung in Springerstiefel und Glatze. Wieso?
Schwerdtner: Die Neue Rechte hat Antonio Gramsci (marxistischer Philosoph, d. Red.) in den letzten Jahren besser verstanden als wir. Die sind in die Vereine gegangen, haben junge Menschen angesprochen, waren stark auf Social Media. All das, was wir nicht waren. Sie haben eine rechte Hegemonie geschaffen. Es gibt einen enormen Frust unter jungen Männern, die vermeintliche Sicherheit in alten Rollenbildern von Mann und Frau suchen. Auf Social Media konnten wir dem schon etwas entgegensetzen und die blaue Welle brechen. Wir werden diesem Hass mit der Vision einer solidarischen Gesellschaft begegnen.
WELT: An diesem Haustürwahlkampf haben sich Zehntausende neue Mitglieder beteiligt, Ihre Partei hat sich auf mehr als 120.000 Mitglieder verdoppelt. Was machen die ganzen vor allem jungen, akademisch gebildeten Leute jetzt?
Schwerdtner: Die Haustürgespräche gehen weiter, unsere Kampagne zum Heizkosten-Check geht erst richtig los. Dafür brauchen wir viele Leute. Die Neumitglieder bilden wir systematisch aus, bieten Schulungen an.
WELT: In dem früher von Ihnen geleiteten Magazin „Jacobin“ wird zur Kaderbildung aufgerufen, die Linke solle nicht vor Parteischulen wie in der SED zurückschrecken.
Schwerdtner: Ein umfassendes Bildungsprogramm steht zumindest sinngemäß in unserem Leitantrag zum Parteitag. Wir nennen es nicht Parteischule, das ist nicht der angemessene Begriff. Doch der großen Masse der Neumitglieder müssen wir Grundlagen vermitteln: ABC des Marxismus, Organisation eines Kreisverbands, wie geht Wahlkampf. Wir sind eine ganz neue Partei, gerade viele junge Frauen sind dazugekommen. Doch wir berufen uns auf alte Begriffe und alte Werkzeuge, ein bisschen oldschool mit modernen Methoden.
WELT: „Kader“ und „Parteischule“ klingen autoritär.
Schwerdtner: Autoritär würde ich es nicht nennen. Es gibt nach vielen Jahren Zersplitterung und Selbstbeschäftigung aber Bedarf an Orientierung. Jan van Aken und ich übernehmen politische Führung und machen einen Kampagnenvorschlag – und der hat in der Partei total verfangen. Unsere Parteizentrale reagiert damit auch auf das krasse Wachstum.
WELT: Ihrer Fraktion gehören ein Autowerk-Arbeiter, eine Krankenpflegerin und eine Sozialarbeiterin an – wie Sie alle ohne Parlamentserfahrung. Wie schaffen Sie sich das nötige Wissen drauf?
Schwerdtner: Durch Schulungen. Wie stellt man eine Anfrage, was ist parlamentarische Beobachtung, wie arbeitet ein Ausschuss. Aber wir werden auch vieles anders machen: Unsere Abgeordneten bieten Sozialsprechstunden im Wahlkreis, wir wollen pro Jahr an 100.000 Haustüren klopfen. Wir werden einen völlig neuen Stil in den Bundestag bringen. Eine Krankenschwester wird im Gesundheitsausschuss ganz anders sprechen, von Missständen aus erster Hand berichten. Viele von uns kommen aus politischen Bewegungen und dem Aktivismus. Diesen Stil werden wir ins Parlament bringen.
WELT: Ihre Kollegin Cansın Köktürk trug zur ersten Bundestagssitzung eine Kufiya aus Solidarität mit den Palästinensern. Ihr Genosse Bodo Ramelow sagte dem „Spiegel“ dazu: „Ich habe jüdische Freunde, die die Kufiya als Bedrohung ansehen.“
Schwerdtner: Ich verteidige, dass sie das getragen hat. Es hat als politisches Symbol nicht zwingend etwas mit der Hamas zu tun, sondern ist ein solidarisches propalästinensisches Symbol. Wir tun aber gut daran, nicht nur so Symbolpolitik zu betreiben, sondern uns über inhaltliche Anträge und Reden auch diesem Thema zu widmen. Reizsymboliken werden dem Krieg in Gaza und den Menschen in Israel und Palästina nicht gerecht – sie führen eher zu Verletzungen. Wir sollten über die Situation vor Ort und nicht über die Kleiderordnung des Bundestags sprechen.
WELT: Es geht aber nicht nur um Kleidungsstücke: Ihr Bezirksverband Berlin-Neukölln arbeitet mit erklärten Israel-Feinden zusammen, die den Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 als Befreiungsakt feierten. Einige Linke-Abgeordnete werfen Israel einen Völkermord in Gaza vor. Wollen Sie Grenzen ziehen?
Schwerdtner: Die Beiträge meiner Genossinnen und Genossen im Bundestag, ihre Reden auf Demos oder ihre Solidaritätsbekundungen mit der Kufiya sind im Rahmen unserer Parteiposition, die wir auf dem Parteitag in Halle beschlossen haben. Wo die Hamas verherrlicht wird, ist die rote Linie. Aber auch da, wo Völkerrechtsverbrechen Israels verharmlost werden.
WELT: Die Union benannte kürzlich ihre Minister für die künftige Bundesregierung. Zufrieden?
Schwerdtner: Negativ überrascht. Die Union holt völlig unverhohlen Leute aus der Wirtschaft trotz fehlender Politikerfahrung in die Bundesregierung, wie etwa den MediaMarkt-Saturn-Manager Karsten Wildberger als Digitalminister. Das halte ich für völlig waghalsig von Friedrich Merz (CDU). Wer ein Kabinett aus Millionären und Lobbyisten baut, wird Steuergeschenke für Reiche und Politik für Unternehmen bekommen.
WELT: Die CDU würde wohl antworten: Ein Unternehmer hat Wirtschaftserfahrung.
Schwerdtner: Und ich sage: Das zeigt den Drehtüreffekt zwischen Wirtschaft und Politik. Das kennen wir ja von Merz selbst: Von der CDU zu BlackRock und wieder zurück. Merz ist Trump light: Er holt zwar nicht Oligarchen wie Elon Musk in die Regierung, aber macht die deutsche Mittelstandsversion davon. Ob MediaMarkt das Erfolgsmodell ist, wonach wir Deutschland umbauen sollte, halte ich für fraglich.
WELT: Die SPD-Mitglieder stimmten dem Koalitionsvertrag zu. Welche Hoffnungen setzen Sie in die Sozialdemokraten?
Schwerdtner: Mit der neuen Regierung ist die Erhöhung des Mindestlohns nicht sicher, das Bürgergeld wird wieder abgeschafft, eine Vermögenssteuer bleibt aus, auch an den Acht-Stunden-Arbeitstag will man ran. Wenn die SPD da zustimmt, können sie den Laden gleich dichtmachen.
WELT: Zuletzt wurde über einen neuen Umgang mit der AfD im Bundestag gestritten. Der Verfassungsschutz stuft die Partei seit Freitag bundesweit als gesichert rechtsextremistisch ein. Wie bewerten Sie das?
Schwerdtner: Jetzt sollte auch dem letzten CDU-Politiker klar sein, dass die AfD keine normale Partei ist, mit der man gemeinsam abstimmt. Das Verbotsverfahren ist richtig, aber wir müssen der AfD die Grundlage entziehen, indem wir den Menschen die Angst vor der Zukunft nehmen. Ein robuster Sozialstaat ist das beste Mittel gegen rechtsextreme Hetzer.
Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht.
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