Der Autoverkehr über die – laut ukrainischem Geheimdienst SBU in einem „katastrophalen Zustand“ befindliche – Krim-Brücke läuft wieder. Aber nichts ist Routine nach den koordinierten ukrainischen Angriffen. Während in russischen Telegramkanälen hyperventiliert wird, legte der Chef der krimtatarischen Selbstverwaltung (Mejlis), Refat Chubarow, mit einem Appell an russische Siedler auf der Krim nach: „Sobald die Kertsch-Brücke zerstört ist – und dieser Zeitpunkt rückt immer näher –, seid ihr gefangen“, so Chubarow in einer Videobotschaft. „Die russischen Generäle werden nicht zögern, euch als menschliche Schutzschilde zu benutzen, um sich selbst zu retten.“
So nach und nach ergibt sich ein Bild, was die ukrainischen Angriffe der vergangenen Tage zum Ziel haben könnten: die Krim. Nach der Explosion an der Brücke wurden noch am Dienstag Explosionen an den einzigen zwei Übergängen zwischen der Krim und dem ukrainischen Festland gemeldet. Bereits in der Vorwoche waren wichtige Eisenbahnbrücken sowie Signalanlagen auf russisch besetztem ukrainischem Gebiet und ein ganzer Güterzug auf dem Weg auf die Krim von Partisanen gesprengt worden. Am Dienstagabend gab es auf der gesamten Krim schließlich Luftalarm.
Die vergangenen Tage haben Schwächen Russlands sehr deutlich gemacht. Die Krim-Brücke steht zwar noch und ist „nur“ beschädigt. Angebracht worden war der Sprengsatz (laut SBU 1100 Kilogramm im TNT-Äquivalent) allerdings direkt am Fundament. Zudem gab es Berichte über weitere Explosionen, womöglich durch Unterseedrohnen. Die Brücke ist damit faktisch ein Wrack. Seit dem ersten Angriff mit einer Lkw-Bombe im Oktober 2022 ist die Eisenbahntrasse über die Brücke nur sehr beschränkt nutzbar. Damals war ein ganzes Straßensegment der Brücke eingestürzt.
Diese Trasse ist aus russischer Sicht aber der sicherste Weg, um die Krim sowie die Truppen in der Südukraine zu versorgen. Zudem ist die Eisenbahninfrastruktur im russisch besetzten Teil der Süd- und Ostukraine nicht auf großen Ost-West-Transit von Russland auf die Krim ausgelegt. Die Trassen waren zuletzt ausgebaut worden – allerdings haben es die russischen Besatzer dort eben auch mit zunehmenden Attacken der Partisanengruppe Atesh zu tun, die diese Infrastruktur gezielt angreift. Hinzu kommt: Die Übergänge von der Festlandukraine auf die Krim liegen in Reichweite ukrainischer Drohnen, Raketen und Marschflugkörper. Damit gerät die Krim schleichend in einen Belagerungszustand.
Die Halbinsel spielt sowohl militärisch als auch symbolisch eine zentrale Rolle für das russische Regime. Der krimtatarische Aktivist und Journalist Alim Aliev nennt die Krim einen „imperialen Fetisch“ Russlands. Die Annexion im Frühjahr 2014 hatte Putin die höchsten Umfragewerte seiner Regentschaft beschert.
Seinen Machtanspruch hat Russland seither durch eine harte Besatzungs- und Siedlungspolitik untermauert. Widerrede wird mit Repressalien, Verschleppung und Haft geahndet. 70.000 bis 80.000 Menschen hätten die Krim nach der Annexion durch Russland in Richtung Ukraine verlassen, so Alim Aliev. Aus Russland seien seit 2014 aber mindestens 800.000 Menschen auf die Krim gekommen – darunter Angehörige von Sicherheitsdiensten, Beamte, Familien, Pensionisten, Siedler.
Hastige Verlegung von russischen Truppen
Die jetzigen Angriffe dürften jedenfalls für Panik auf und rund um die Krim sorgen. Atesh berichtet von hastigen Truppenverlegungen Russlands auf die Kinburn-Nehrung, eine exponierte Landzunge nahe der Krim in der Region Cherson vor der Mündung des Dnipro.
Russland befürchtet offenbar eine ukrainische Landungsoperation. Bei der panikartigen Verlegung sei es zu Missverständnissen und in Folge zu Kämpfen mit mindestens zwei Toten zwischen russischen Truppenverbänden (der 80. separaten mechanisierten Brigade und der 61. separaten Marine-Brigade) gekommen.
Ein massives Problem lauert da allerdings für die Ukraine: Russland hat für den Sommer groß angelegte Propaganda- uund Militarisierungs-Camps für ukrainische Kinder aus besetzten Gebieten auf der Krim geplant. Die Befürchtung: Russland könnte diese Kinder als menschliche Schutzschilde missbrauchen.
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