Wer den französischen Historiker Stéphane Courtois besucht, kann durch die Passage des Panoramas gehen, die erste überdachte Einkaufspassage von Paris, eröffnet im Jahr 1800. Der deutsche Philosoph Walter Benjamin hat sie in seinem berühmten „Passagenwerk“ als Wiege des Warenfetischismus ausgemacht. Ein passender Auftakt für ein Gespräch über linken Antisemitismus, der in genau diesem beginnenden 19. Jahrhundert seine Wurzeln hat.
Bis in den achten Stock führt der Fahrstuhl des Gebäudes an der Südseite der Passage. Courtois, 76, öffnet die Tür einer Wohnung, die jedem Gast den Atem verschlagen muss: Richtung Norden der Blick auf Montmartre und die Basilika Sacré-Cœur, auf der Südseite der Eiffelturm und Paris in seiner ganzen Pracht.
Mit seinem „Schwarzbuch des Kommunismus“ hatte Courtois Ende der Neunzigerjahre für heftige Debatten gesorgt und den Historikerstreit in Deutschland neu befeuert. Courtois und seine Mitautoren schätzten die Opfer kommunistischer Regime im 20. Jahrhundert auf 100 Millionen Tote – und stellten dem Kommunismus eine Bilanz aus, die mit der des Nationalsozialismus vergleichbar war.
Es war die Gleichsetzung der Verbrechen, die damals auf heftige Kritik stieß. Doch gleichgültig, auf welche Seite man sich schlug, mit dem „Schwarzbuch“ begann die überfällige Aufarbeitung des kommunistischen Totalitarismus.
Dass Courtois gern gegen den Mainstream schwimmt, beweist er erneut mit zwei kurzen Studien zum Antisemitismus von links, die er jetzt gemeinsam mit seinem Historikerkollegen Bernard Bruneteau im Auftrag des liberalen Thinktanks Fondapol veröffentlicht hat. In „Les gauches antisémites“ (Die antisemitischen Linken) zeichnen die Autoren die Ursprünge eines linken Antisemitismus im revolutionären Sozialismus des 19. Jahrhunderts nach.
„Spontan widerspricht Antisemitismus von links der Intuition“, sagt Courtois, der an diesem schwülen Junitag auf seiner Süd-Terrasse Platz genommen hat. Auch in Frankreich verorte man den Antisemitismus traditionell rechts.
Wie ein roter Faden zog er sich durch die französische Geschichte: vom Justizskandal der Dreyfus-Affäre gegen den zu Unrecht beschuldigten jüdischen Offizier Ende des 19. Jahrhunderts über die Kollaboration des Vichy-Regimes mit der deutschen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg bis hin zur Gründung der rechtsextremen Partei Front National 1972 durch Jean-Marie Le Pen.
Verlagerung nach links
Nun beobachtet Courtois eine zunehmende Verschiebung. Das Problem habe sich komplett nach links verlagert, urteilt der Historiker. Sein Zentrum macht er im „Islamo-Gauchisme“ aus, wie man die Allianz zwischen Linkspopulisten und radikalem Islam in Frankreich nennt. „Der französische Antisemitismus hat mutiert, wie ein Virus mutiert“, konstatiert er.
Offen zugegeben wird das nicht. „Aus Prinzip steht die Linke immer auf der richtigen Seite der Geschichte. Es werden die schlimmsten Sachen über jüdische Politiker gesagt, aber das steht bei ihnen nicht unter den Verdacht des Antisemitismus, was natürlich Tarnung ist“, resümiert Courtois.
Die Allianz der Linkspopulisten von La France Insoumise (LFI) mit dem radikalen Islam bis hin zur Muslimbruderschaft sieht er inzwischen als gesellschaftliches und politisches Problem. Es handele sich dabei keinesfalls um Gelegenheits-Antisemitismus, sondern um eine strukturelle Judenfeindlichkeit mit Wurzeln im 19. Jahrhundert.
Im ersten Heft der Studie zeigen die Autoren auf, wie in dieser Periode die antikapitalistische Ideologie mit der antisemitischen verschwamm. „Der Jude“ wurde zum Inbegriff des Kapitalisten und seiner angeblich schamlosen Bereicherung. Karl Marx, ein zum Protestantismus konvertierter Jude, bediente diese Klischees in seinem Aufsatz „Zur Judenfrage“.
Und der sozialistische Intellektuelle Augustin Hamon schrieb 1889 in der „Revue socialiste“: „Der Jude ist ins bürgerliche Milieu eingedrungen, hat den einen geschmeichelt, die anderen beleidigt, manche hat er ausgenutzt, alle hat er bestohlen. Angefangen mit nichts, dominiert er am Ende alles.“ Urteile wie dieses waren keine Ausnahme.
Im zweiten Heft spannt Courtois den Bogen vom Negationismus der Nachkriegszeit – also der Leugnung von Völkermorden, insbesondere des Holocaust – bis zum als „Antizionismus“ getarnten Antisemitismus Josef Stalins, der auch die französischen Kommunisten nachhaltig geprägt hat.
An diesem Vormittag auf der Terrasse führen die Exkursionen des Totalitarismusexperten Courtois vor allem zurück in die Anfangsjahre der Sowjetunion. Ein besonders düsteres Beispiel für den staatlichen Antisemitismus war die „Affäre der weißen Kittel“, ein antisemitisch motivierter Schauprozess gegen jüdische Ärzte, die eines zionistisch-imperialistischen Komplotts beschuldigt wurden. Es hätte zu einem neuen Pogrom kommen können, wenn Stalin nicht kurz darauf gestorben wäre.
Allianz zwischen Linkspopulisten und radikalem Islam
Heute ist aus Sicht von Courtois die Allianz zwischen Linkspopulisten und radikalem Islam besonders problematisch. Einer ihrer auffälligsten und lautesten Repräsentanten in Frankreich ist der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon, der großes Geschick dabei entwickelt hat, seinen Antisemitismus hinter Antizionismus und seiner antiisraelischen Haltung zu kaschieren.
Nachdem er die Stichwahl bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen nur knapp verpasst hat, versucht er die ihm fehlenden Stimmen in den Banlieues zu holen, bei der dritten Generation von Einwanderern aus dem Maghreb, deren Themen er gezielt bedient. Mélenchons Partei glänzte durch Abwesenheit, als die Vertreter der französischen Parteien eingeladen wurden, die Filmdokumente der Hamas-Terrorattacke vom 7. Oktober 2023 anzusehen. „Was aussieht wie Wahlklientelismus, hat in Wahrheit tiefe Wurzeln“, so Courtois.
Wie tief diese liegen, weiß der Historiker aus eigener Anschauung. Anfang der 70er-Jahre war Courtois selbst Maoist und betrieb in Paris den Buchladen „La Commune“. Damals verkaufte er Poster von Che Guevara, Angela Davis und einer Palästinenserin mit Kalaschnikow, das „heute denselben Erfolg hätte wie damals“.
Er erinnert sich, dass die linken Kampfgruppen damals fast ausnahmslos von Juden seiner Generation geleitet wurden, deren Eltern den Holocaust überlebt hatten. Das Attentat gegen die israelischen Sportler bei den Olympischen Spielen 1972 in München sorgte deshalb für eine erste Spaltung. Viele Juden wendeten sich von Maoismus und Trotzkismus ab, „aber der Nährboden blieb“.
Wenn man den Historiker fragt, ob die Nazijäger Serge und Beate Klarsfeld, die sie sich als Juden dafür aussprechen, eher Rassemblement National (RN) zu wählen als LFI, eine Ausnahme sind, dann wird Courtois kategorisch. „Nein, keineswegs. Wir wohnen einer verblüffenden Umkehrung bei.“ Am Tag zuvor ist er aus Perpignan zurückgekommen, der südfranzösischen Stadt, die seit 2020 vom RN-Bürgermeister Louis Alliot regiert wird, Marine Le Pens ehemaligen Lebensgefährten.
„Im Prinzip ist das eine Hochburg der Rechtsextremen, aber auf allen Podiumsdiskussionen ging es die ganze Zeit darum, wie man die Juden verteidigt und schützt“, so Courtois. Für ihn ein weiterer Beleg dafür, dass der Antisemitismus die Seiten gewechselt hat.
Martina Meister berichtet im Auftrag von WELT seit 2015 als freie Korrespondentin in Paris über die französische Politik.
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