Dirk Wiese, 42, ist seit Mai 2025 Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion.

Politico: Herr Wiese, Friedrich Merz sagt, es gibt keine Koalitionskrise. Hat er recht?

Dirk Wiese: Ich glaube, es war am Freitag ein ernster Tag für diese Koalition, weil das Zweifel bei uns ausgelöst hat, dass die Union auch schwierige Entscheidungen in den eigenen Reihen durchsetzen kann. Aber von Krise, Koalitionskrise, alles, was ich am Wochenende gelesen habe, würde ich nicht sprechen. Diese Regierung hat schon sehr viel durchgesetzt und auf den Weg gebracht hat. Aber noch mal, das war Freitag kein guter Tag.

Politico: Friedrich Merz sagt auch, er hat eigentlich keine Gründe, an Jens Spahn zu zweifeln. Würden Sie dem zustimmen?

Wiese: Ich will es anders formulieren. Wenn wir eine Zusage bekommen, dass Richterinnen-Vorschläge für das Bundesverfassungsgericht eine Mehrheit bekommen und am Ende letztendlich Jens Spahn zurückrudern muss, dann ist das schon ein Vertrauensverlust.

Aber noch mal, wir müssen da jetzt in Ruhe drüber sprechen, weil: Man muss sich auf Mehrheiten verlassen können. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben letztens beim Familiennachzug auch eine schwierige Entscheidung mitgetragen, durchgesetzt mit nur zwei Gegenstimmen. Und so etwas erwarte ich auch vom Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, auch wenn es in den eigenen Reihen schwierig wird.

Politico: Jetzt sagt der Bundeskanzler, man kann die Abgeordneten nicht disziplinieren, sie sind ihrem Gewissen verpflichtet. Würden Sie das auch so sehen?

Wiese: Natürlich gibt es immer wieder Gewissensentscheidungen im Deutschen Bundestag. Aber ehrlicherweise: Es gibt auch Koalitionsverträge. Es gibt Dinge, auf die verständigt man sich. Manches ist für die eine Partei leichter, manches für die andere mitzutragen. Und dann gibt es Verabredungen, wenn Personalentscheidungen anstehen. Wenn Zusagen kommen von der Fraktionsspitze, dass diese Personalentscheidungen mitgetragen werden, habe ich schon die Erwartungshaltung, dass das gilt und man, Entschuldigung, sich nicht hinter Gewissensentscheidungen etwas versteckt.

Politico: Andersrum gesagt könnte man ja jetzt sagen: Okay, dann stimmen alle bei jeder Frage im Gewissen ab. Das würde ja bedeuten, dass auch SPD-seitig die Mehrheiten nicht mehr stehen.

Wiese: Ich würde es mal so formulieren: Wenn man das zu Ende denkt, werden Abstimmungen schwierig prognostizierbar tatsächlich. Auch knappe Mehrheiten werden schwierig, die tatsächlich zu sichern. Das ist ja der Grund, warum man Koalitionsverträge eingeht. Und Koalitionsverträge, da gibt es Dinge, die sind für den einen Partner leichter, manche für den anderen. Aber im Endeffekt ist unser Anspruch, dieses Land zu regieren. Und da gehört es manchmal dazu, dass jeder der Partner schwierige Entscheidungen mitzutragen hat.

Politico: Trotzdem gibt es ja eine Kritik an Frau Brosius-Gersdorf, die vielleicht auch nicht ganz unberechtigt ist. Warum sind Sie nicht von vornherein auf eine Kandidatin gegangen, die vielleicht vermittelbarer ist?

Wiese: Wir haben für diese Kandidatin grünes Licht von der Spitze der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekommen. Ich zitiere gerne den saarländischen Ministerpräsidenten und früheren Bundesverfassungsrichter Peter Müller: Der hat gesagt, am Bundesverfassungsgericht gibt es nicht nur stromlinienförmige Kandidaten, die vielleicht jedem zu 100 Prozent passen, sondern es gibt Kandidatinnen und Kandidaten, die zweifelsohne fachlich absolut geeignet sind und vielleicht dem einen oder anderen mal nicht so gut passen.

Politico: Jeder zitiert jetzt, wen er möchte. Die Frage ist: Wenn jemand wie Jens Spahn so ein Mehrheitsproblem hat bei sich, müssen Sie ihm nicht irgendwie entgegenkommen – im Sinne der Koalition?

Wiese: Jeder hat die Möglichkeit, irgendjemanden zu zitieren. Aber ich will schon sagen: Der Grund, warum die Union es letztendlich am Freitag abgesetzt hat, war ja tatsächlich der Plagiatsvorwurf. Der hat sich in Luft aufgelöst. Von daher erwarte ich jetzt, dass die Union sich Frau Brosius-Gersdorf stellt, sie in die Fraktion einlädt und im September mitwählt.

Politico: Halten Sie an dem fest?

Wiese: Wie ich gerade gesagt habe: Ich erwarte, dass im September mitgewählt wird.

Das Interview stammt aus dem „Berlin Playbook“-Podcast. Es wurde aus Gründen der Verständlichkeit und Leserlichkeit editiert. Das „Playbook“ von „Politico“ Deutschland finden Sie hier. Gordon Repinski ist Executive Editor „Politico“ Deutschland.

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