- Rechtswissenschaftler kritisieren "mit Unwahrheiten und Diffamierungen gespickte Kampagnen" gegen Brosius-Gersdorf.
- Jens Spahn räumt Fehler im Umgang mit der gescheiterten Richterwahl ein, Kanzler Merz spielt den Richterwahl-Streit herunter.
- Bundespräsident Steinmeier kritisiert die Regierung nach dem Richterwahl-Streit scharf.
- Brosius-Gersdorf steht in der Union vor allem wegen ihrer liberalen Haltung zu Abtreibung, Impfpflicht und AfD-Verbot in der Kritik – lange vor dem umstrittenen Plagiatsverdacht.
Der Umgang mit SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf bei der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht sorgt in Fachkreisen für scharfe Kritik. In einem offenen Brief von rund 300 Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftlern heißt es, dieser Umgang sei geeignet, "die Kandidatin, die beteiligten Institutionen und mittelfristig über den Verfall der angemessenen Umgangskultur die gesamte demokratische Ordnung zu beschädigen".
Kompetenz von Brosius-Gersdorf "in Fachkreisen völlig unstreitig"
"Im Richterwahlausschuss eine Kandidatin zunächst zu bestätigen, um dann gegenüber ideologisierten Lobbygruppen und mit Unwahrheiten und Diffamierungen gespickten Kampagnen zurückzurudern, zeugt zumindest von fehlendem politischem Rückgrad und mangelnder interner Vorbereitung", heißt es weiter. Brosius-Gersdorf sei eine hoch angesehene Staatsrechtlerin. Das sei in Fachkreisen völlig unstreitig.
Brosius-Gersdorf will Medienberichten zufolge an ihrer Kandidatur festhalten. In einer Stellungnahme, die dem Deutschlandfunk vorliegt, nennt sie die Berichterstattung über sie und ihre Standpunkte in Teilen der Medien als unzutreffend, unvollständig, unsachlich und intransparent. So sei etwa die Behauptung verunglimpfend, sie habe sich für eine Legalisierung und eine straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs bis zur Geburt ausgesprochen.
Spahn: Habe Bedenken gegen SPD-Kandidatin unterschätzt
Am Montag hatte Unionsfraktionschef Jens Spahn Fehler im Umgang mit dem geplatzten Wahltermin für drei neue Richter am Bundesverfassungsgericht eingeräumt. In einem Brief an seine Fraktion sprach er am Montag von einem "schweren Tag" für die Koalition. "Da gibt es nichts schönzureden", erklärte Spahn. Eine vertagte Richterwahl sei jedoch "keine Staatskrise".
Der CDU-Politiker gestand jedoch ein, die Bedenken innerhalb seiner Fraktion gegenüber der SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf unterschätzt zu haben. Dass der Eindruck entstanden sei, ein Plagiatsverdacht sei das zentrale Argument der Union, "hätte nicht passieren dürfen". Ein Kompromiss mit der SPD sei zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich gewesen – "daran haben beide Seiten ihren Anteil". Trotzdem zeigte sich Spahn zuversichtlich, mit dem Koalitionspartner eine Lösung zu finden. Eile sehe er dabei nicht.
Teile der Unions-Fraktion lehnen Brosius-Gersdorf wegen ihre liberalen Haltung zum Schwangerschaftsabbruch ab. Auch ihre Position zu einer Corona-Impfpflicht während der Corona-Pandemie sorgt bei einigen Unionspolitikern für Kritik.
Die Spitzen von Union und SPD beraten indes hinter den Kulissen intensiv über eine Lösung. Regierungssprecher Stefan Kornelius gab am Montag bekannt, dass Kanzler Friedrich Merz und Finanzminister Lars Klingbeil sehr ausführlich zu einer Reihe von Themen telefoniert hätten. Ergebnisse wurden nicht kommuniziert. Kornelius sagte aber, er sei zuversichtlich, dass sich die Fraktionen dieses Falls nun annehmen würden.
Merz: Gescheiterte Wahl ist kein Beinbruch
Bundeskanzler Merz hatte den Streit um die Richterwahl im ARD-Sommerinterview am Sonntag heruntergespielt: "Das war am Freitag nicht schön. Aber das ist nun auch keine Krise, keine Krise der Demokratie, keine Krise der Regierung". Die Verschiebung der Wahl sei "nun wirklich kein Beinbruch". Merz betonte, es gebe aktuell keinen Zeitdruck. Man werde "mit der SPD in Ruhe besprechen", wie es weitergehe. Ziel sei, "für die nächste Runde gute Mehrheiten zu bekommen".
Zugleich räumte aber auch Merz ein, die Vorbehalte innerhalb der Unionsfraktion gegen die Frauke Brosius-Gersdorf unterschätzt zu haben: "Wir hätten natürlich früher erkennen können, dass da großer Unmut besteht."
Steinmeier hält Koalition für beschädigt
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte die Regierungskoalition hingegen scharf kritisiert und eindringlich zur Einigung aufgerufen. "Die Koalition hat sich jedenfalls selbst beschädigt", sagte Steinmeier am Sonntag im ZDF-Sommerinterview. Die Parteien der demokratischen Mitte müssten den Streit zügig beilegen, "denn es geht hier um Autorität und Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichtes". Die kurzfristige Absage der Richterwahl rühre auch an der Autorität des Parlaments, erklärte Steinmeier weiter. Er warnte davor, das Verfahren zu parteipolitisch aufzuladen.
Bareiß und Söder fordern neue Kandidatin
Der CDU-Abgeordnete Thomas Bareiß hatte dem "Tagesspiegel" bereits am Wochenende gesagt, der Koalitionspartner SPD solle eine neue Kandidatin vorschlagen. Kritik übte Bareiß auch an Unions-Fraktionschef Jens Spahn. Obwohl er die Kritik an den Positionen von Brosius-Gersdorf teile, hätte er sich in der Frage der Plagiatsvorwürfe etwas mehr Zurückhaltung gewünscht.
Forderung nach mehr ostdeutschen Verfassungsrichtern (zum Ausklappen)
Sachsen-Anhalts Landesbeauftragter für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Johannes Beleites, fordert eine stärkere ostdeutsche Repräsentation am Bundesverfassungsgericht. Er kritisierte, dass seit der Wiedervereinigung 48 Richter berufen worden seien, aber nur zwei davon aus Ostdeutschland stammten. "Demokratie hat immer auch etwas mit Repräsentation zu tun", so Beleites. Er zeigte sich besorgt, dass dieser Aspekt in der aktuellen Debatte über die Richterwahl kaum beachtet werde. Besonders mit Blick auf ein mögliches AfD-Verbotsverfahren sei es "fatal", wenn in Karlsruhe nur eine ostdeutsche Stimme vertreten sei – die spezifischen Erfahrungen und Perspektiven aus dem Osten dürften dabei nicht fehlen.
Auch CSU-Chef Markus Söder legte der SPD nahe, Frauke Brosius-Gersdorf durch eine andere Kandidatin zu ersetzen. Auf deren Nominierung habe "kein Segen" gelegen, sagte Söder am Montag im Anschluss an eine CSU-Vorstandssitzung in München. Die SPD solle im Herbst einen neuen Vorschlag machen, der vielleicht besser geeignet sei.
Zugleich plädierte Söder für eine Reform des Wahlverfahrens. Künftig solle eine einfache Mehrheit im Bundestag ausreichen, um Verfassungsrichter zu wählen. Die aktuell notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit führe zu kaum vertretbaren politischen Kompromiss- und Konsensverrenkungen, kritisierte der CSU-Vorsitzende. Es könne nicht sein, dass etwa die Linkspartei faktisch mitentscheide, wen die Union wähle. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt hatte sich zuletzt offen für Gespräche mit der Linken gezeigt.
SPD hält an Brosius-Gersdorf fest
Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Sonja Eichwede bekräftigte unterdessen, dass ihre Partei an Brosius-Gersdorf festhalten werde. Gegenüber Welt TV bestätigte sie den Plan der SPD-Fraktionsspitze, dass sich Brosius-Gersdorf in der Bundestagsfraktion von CDU/CSU vorstellen solle.
KNA/dpa/AFP/Reuters/epd (dni, jst)
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.