Deutschlands Stahlindustrie steht vor einem historisch schlechten Jahr. Nur noch 17,1 Millionen Tonnen Rohstahl haben die heimischen Hersteller in den ersten sechs Monaten 2025 produziert, meldet die Wirtschaftsvereinigung Stahl. Das sind fast zwölf Prozent weniger als im ohnehin schon schwachen Vorjahreszeitraum. „Der Produktionseinbruch zeigt, wie dramatisch es um den Industriestandort Deutschland steht“, warnt Kerstin Maria Rippel, die Hauptgeschäftsführerin des Branchenverbandes.
Von einer „extrem angespannten“ Lage ist bei der Wirtschaftsvereinigung die Rede. Hochgerechnet auf das Gesamtjahr geht die Organisation derzeit nur noch von einer Produktionsmenge in Höhe von 29 Millionen Tonnen für Europas größten Stahlstandort aus – und damit vom bislang niedrigsten Wert überhaupt. In manchen Jahren lag diese Zahl mal bei deutlich über 40 Millionen Tonnen. Besonders stark ist der Rückgang bei der klassischen Hochofen-Route, hier liegt das Minus bei über 15 Prozent. Aber auch die im Vergleich CO2-arme Elektrostahlproduktion basierend auf Stahlschrott und Strom verliert im ersten Halbjahr weiter an Mengen, konkret 3,6 Prozent.
Gründe für die Branchenkrise sind zum einen die anhaltenden Konjunkturprobleme mit einer schwachen Inlandsnachfrage, allen voran in den zentralen Abnehmerindustrien wie Bau, Maschinenbau und Automobil. Zum anderen setzen billige Importe den hiesigen Herstellern zu, zusätzlich verstärkt durch die Zollpolitik des amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Denn Lieferanten, die ihr Material bislang in die USA verkaufen, müssen sich angesichts der Aufschläge neue Märkte suchen und drängen dabei vor allem nach Europa, denn dort herrschen die liberalsten Einfuhrregelungen, wie es aus der Branche heißt. „Wir brauchen dringend stärkeren und verlässlichen Außenhandelsschutz“, fordert deswegen Branchenvertreterin Rippel.
Drittens schließlich belasten Standortnachteile wie hohe Energiekosten und drohende CO₂-Abgaben die Stahlhersteller in Deutschland. Zwar steckt die Industrie längst in einer grünen Transformation weg von der klassischen Hochofenroute mit Koks und Kohle hin zu im Idealfall mit grünem Wasserstoff betriebenen Direktreduktionsanlagen. Dieser Umbau ist allerdings teuer und kostet trotz staatlicher Förderung einen hohen Milliardenbetrag, der durch die aktuelle Marktschwäche operativ nicht verdient werden kann.
Weltmarktführer ArcelorMittal hat seine Pläne für eine grüne Stahlproduktion an den Standorten Bremen und Eisenhüttenstadt daher jüngst gestoppt. Begründet wird diese Entscheidung mit fehlender Wirtschaftlichkeit – trotz bereits bewilligter Fördergelder von Bund und Ländern in Höhe von 1,3 Milliarden Euro. Auf dieses Geld verzichtet ArcelorMittal nun. „Die Rahmenbedingungen ermöglichen aus unserer Sicht kein belastbares und überlebensfähiges Geschäftsmodell“, sagt Reiner Blaschek, der Chef der europäischen Flachstahlsparte von ArcelorMittal, mit Verweis auf hohe Stromkosten und Netzentgelte und zu wenig verfügbaren Wasserstoff.
Industrie und Gewerkschaft fordern Stahlgipfel
Die Wirtschaftsvereinigung fordert angesichts dieser Gemengelage einen Stahlgipfel. „Was wir jetzt brauchen, ist ein Spitzentreffen auf höchster politischer Ebene mit unserer Branche“, sagt Geschäftsführerin Rippel. Ähnliches hatte zuvor schon die in der Stahlindustrie breit aufgestellte IG Metall angeregt und auch der Bundesrat aus Antrag der Bundesländer Bremen, Brandenburg, Saarland, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.
Und die Chancen stehen gut. Sowohl Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) als auch Vizekanzler und SPD-Co-Chef Lars Klingbeil zeigen sich offen. Deutschland brauche eine eigene Stahlindustrie, betonen beide Politiker. „Ich möchte Deutschland nicht abhängig sehen von Stahlimporten aus anderen Ländern, gleich wo diese Länder sein mögen – ob in Europa, in Amerika oder in China“, hat zum Beispiel Merz vor gut einer Woche bei einer Befragung im Bundestag klargestellt. Er werde daher die Möglichkeit eines Stahlgipfels wohlwollend prüfen. Und wenn er das Gefühl habe, dass dort ein Ergebnis herauskommen kann, werde er zu einem solchen Gipfel einladen.
Welche Forderungen und Wünsche die Stahlindustrie bei einem solchen Treffen artikulieren wird, ist bereits absehbar, werden sie von den Unternehmen wie auch von der Wirtschaftsvereinigung Stahl doch schon seit Jahren geäußert. „Nur mit einem wirksamen europäischen Handels- und Carbon-Leakage-Schutz, mit wettbewerbsfähigen Strompreisen inklusive einer Senkung der Übertragungsnetzentgelte noch in diesem Jahr, und mit einem Vergaberecht, das auf emissionsarme heimische Grundstoffe setzt, hat unsere für die Volkswirtschaft so wesentliche Stahlindustrie in Deutschland eine Zukunft“, sagt Verbandschefin Rippel stellvertretend. Und entscheidend sei dabei, dass sich die Beteiligten um die zeitnahe und verlässliche Umsetzung dieser bekannten Maßnahmen kümmerten.
„Politisch muss jetzt alles daran gesetzt werden, für energieintensive Industrien wie die Stahlindustrie einen international wettbewerbsfähigen und langfristig verlässlichen Strompreis zu sichern. Ein erster, dringend nötiger Schritt ist dabei die schnelle Senkung der Übertragungsnetzentgelte.“ Das sei mittlerweile zwar für Anfang 2026 angekündigt. „Für Elektrostahlwerke ist das jedoch zu spät. Erste Entlastungen müssen noch 2025 kommen – mit einer Finanzierung aus dem Bundeshaushalt und einer Verstetigung für die Folgejahre“, so Rippel weiter.
Tatsächlich stehen sogenannte Elektrolichtbogenöfen, in denen strombasiert aus Eisenerz hergestellter Eisenschwamm zusammen mit Stahlschrott eingeschmolzen wird, regelmäßig still in Deutschland. Und das nicht aufgrund von Auftragsmangel. „Wir haben unseren E-Ofen phasenweise aufgrund von hohen Stromkosten abgestellt, richtig hart abgestellt“, sagte zum Beispiel Gunnar Groebler, der Vorstandschef von Salzgitter, kürzlich vor der Wirtschaftspublizistischen Vereinigung Düsseldorf (WPV). Und auch ArcelorMittal richtet den Betrieb seiner Anlage in Hamburg immer wieder nach dem Strompreis am Spotmarkt aus – und fährt den Ofen dafür kurzfristig rauf und wieder runter.
Das aber kann nicht das Zukunftsmodell sein, zumal es keine Produktionssicherheit bietet. Anne-Marie Großmann, die Geschäftsführerin und Mitgesellschafterin des niedersächsischen Elektrostahlherstellers Georgsmarienhütte, hat sogar schon offen mit Abwanderung gedroht. „Wenn sich die Perspektive nicht ändert, ist die einzige Schlussfolgerung, hier irgendwie mit einem Schrecken rauszukommen und dann zu versuchen, eine Perspektive im Ausland zu finden“, hatte sie im Januar vor der Wirtschaftspublizistischen Vereinigung Düsseldorf (WPV) gesagt.
Denn wenn sich die Produktion nicht mehr rechne in Deutschland, werde man auch nicht mehr investieren. „Dann läuft es aus, dann produzieren wir den Stahl eben nicht mehr.“ Dann könne man allenfalls noch sich überlegen, ob vorhandene Weiterverarbeitungskapazitäten mit Stahl gefüllt werden, der im Ausland eingekauft wird oder „ob wir gleich die gesamte Wertschöpfungskette ins Ausland verlegen“. Ohne Umdenken in der Politik werde es künftig keinen Stahl mehr aus Deutschland geben.
Carsten Dierig ist Wirtschaftsredakteur in Düsseldorf. Er berichtet über Handel und Konsumgüter, Maschinenbau und die Stahlindustrie sowie Mittelstandsunternehmen.
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