Die Kamera schwenkt über Soldaten in Paradeuniform, Panzerkolonnen fahren durch die Straßen der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Dann rollt ein gigantisches Startfahrzeug, größer als jedes Artilleriegeschütz, auf 18 Rädern heran. Auf seiner Ladefläche ruht die Silhouette einer Waffe, die allein durch ihre Masse Angst verbreiten soll: die Interkontinental-Rakete Hyunmoo-5, Seouls neueste Abschreckung gegen den atomar bewaffneten Norden.

Südkorea hat in aller Stille eine strategische Drohgebärde gebaut, eine Rakete, die eine Rekordmenge konventionellen Sprengstoff bis zu den tief eingegrabenen Bunkern Nordkoreas tragen kann. In einer Region, in der jedes neue Waffensystem auch als Botschaft gelesen wird, ist die Hyunmoo-5 mehr als nur eine Rakete. Sie ist ein Statement: „Wir haben keine Angst vor euren Atomwaffen“, signalisiert der Süden Richtung Nordkorea und auch China.

Das Startfahrzeug zeigten die südkoreanischen Streitkräfte bereits vor einem Jahr als Prototyp, Anfang Oktober verkündete Verteidigungsminister Ahn Gyu-back, dass die Rakete bis Ende des Jahres in Serienproduktion gehen werde. Südkorea müsse eine „beträchtliche“ Anzahl der Hyunmoo-5-Raketen bauen, um angesichts der Bedrohung durch Nordkorea ein „Gleichgewicht des Schreckens“ zu erreichen.

Gefechtskopf mit acht Tonnen Sprengstoff

Mit dem Auslaufen eines bilateralen Raketenabkommens mit den USA im Jahr 2021 fiel eine jahrzehntealte Beschränkung für Reichweite und Nutzlast südkoreanischer Raketen. Das sogenannte „Missile Guideline Agreement“, das seit 1979 galt, hatte Seouls Waffen ursprünglich auf eine maximale Reichweite von 800 Kilometern erweitert, mit einem maximal 500 Kilogramm schweren Gefechtskopf. Erst die vollständige Aufhebung durch Washington im Mai 2021 ermöglichte Südkorea die Entwicklung von Hochleistungsraketen wie der Hyunmoo-5.

Die Rakete ist ein Gigant unter den konventionellen, auf Lastwagen verladbaren und damit mobilen ballistischen Waffen: Mit rund 16 Metern Länge, etwa zwei Metern Durchmesser und einem Startgewicht von ungefähr 36 Tonnen erreicht die Hyunmoo-5 eine Dimension, die bislang strategischen Raketen nuklearer Mächte vorbehalten war.

Ihr Gefechtskopf soll bis zu acht Tonnen konventionellen Sprengstoff tragen können. Damit hätte er eine Sprengkraft, die unter konventionellen Waffen weltweit einzigartig ist. Die maximale Reichweite variiert je nach Nutzlast: Bei voller Last dürfte sie bei etwa 300 Kilometern liegen, bei reduzierter Last sind laut Analystenschätzungen sogar Reichweiten von etwa 5000 Kilometern möglich. Damit reicht das System weit über die koreanische Halbinsel hinaus.

Zum Vergleich: Die noch im Einsatz befindliche US-amerikanische Interkontinentalrakete Minuteman III ist etwa 18 Meter lang, wiegt knapp 36 Tonnen und trägt einen nuklearen Sprengkopf von rund einer Tonne Gewicht, sie fliegt bis zu 13.000 Kilometern weit. Demnach könnte Südkorea die Reichweite seiner neuen Waffe bewusst niedrig kommunizieren.

Zwar ist die Hyunmoo-5 keine interkontinentale Waffe im klassischen Sinn, doch ihre technischen Daten und die extreme Zerstörungskraft ihres konventionellen Gefechtskopfs verschieben die Grenze zwischen atomarer und konventioneller Abschreckung.

Südkorea erklärt bislang offiziell die Entwicklung der Hyunmoo-5 ausdrücklich mit Blick auf die nordkoreanische Bedrohung. Die Raketen sollen im Falle eines nordkoreanischen Angriffs auf den 9-Achsen-LKW, die zugleich Startrampen sind, in vorbereitete geheime Stellungen bewegt werden und dann dazu dienen, hochgeschützte Kommandozentralen und unterirdische militärische Einrichtungen im Norden auszuschalten.

Mit ihrem Gefechtskopf sowie einer hohen Wiedereintrittsgeschwindigkeit in die Atmosphäre von bis zu zehnfacher Schallgeschwindigkeit zielt sie auf Bunker und insbesondere nukleare Anlagen des Nordens, die nach Einschätzung südkoreanischer Militärs in Tiefen von bis zu hundert Metern angelegt sein könnten.

In Interviews betonten südkoreanische Verteidigungsexperten, die Zerstörungskraft einer Salve dieser Raketen könne mit der Wirkung taktischer Atomwaffen gleichgesetzt werden – allerdings ohne den Einsatz nuklearer Sprengköpfe. Die Hyunmoo-5 soll damit das zentrale Element in der südkoreanischen Vergeltungsdoktrin darstellen, soll die Granden der nordkoreanischen Diktatur daran erinnern, dass sie auch in ihren Bunkern nicht unverwundbar sind. Die Waffe soll abschrecken, auch, ohne dass sie einer Atombombe als Nutzlast trägt.

Nach Einschätzung von Experten ist die neue Waffe mehr als nur eine konventionelle ballistische Rakete für den Einsatz gegen Nordkorea: Nach Einschätzung von Markus Schiller, Analyst für Raketentechnologie in München, könnte die Hyunmoo-5 deutlich weiter fliegen als bislang kommuniziert und „mit weniger Gewicht an der Spitze problemlos“ an die Reichweite einer Interkontinentalwaffe heranreichen.

Doch ein Sprengsatz mit weniger Gewicht macht nur dann Sinn, wenn er dennoch ausreichende Zerstörungskraft bringt. Könnte es sein, dass Südkorea mit der neuen Rakete indirekt darauf hinweist, dass man nun alle notwendigen Technologien für eine nukleare Aufrüstung besitzt?

„Die Rakete könnte eine politische Botschaft tragen: Seht, wir brauchen nur kurze Zeit, um ein vollständiges nukleares Arsenal zusammenzubauen“, kommentiert der Südkorea-Experte Werner Pfennig vom Berliner Institut für Koreastudien. Er vermutet auch eine subtile Botschaft in Richtung des aktuellen US-Präsidenten Donald Trump, der sich in der Vergangenheit öffentlich höchst beeindruckt vom nordkoreanischen Raketenarsenal gezeigt hatte. „Das ist auch eine Statusfrage – die Südkoreaner wollen ernst genommen werden“, so Pfennig.

Potenzieller Zwischenschritt zur nuklearen Abschreckung

Die Hyunmoo-5 gilt internationalen Beobachtern deswegen als ein möglicher Zwischenschritt Südkoreas auf dem Weg zur eigenen nuklearen Abschreckung. Verteidigungsexperten verweisen darauf, dass die Hyunmoo-5 sowohl in Reichweite als auch in Durchschlagskraft an Systeme heranreicht, die in anderen Ländern ausschließlich für nukleare Zwecke entwickelt wurden.

Zwar ist die Rakete offiziell nicht für den Einsatz mit Atomwaffen vorgesehen, zudem ist Südkorea bislang an den Atomwaffensperrvertrag gebunden. Doch bei einem politischen Kurswechsel könnte die neue Rakete relativ kurzfristig zur atomaren Waffe aufgerüstet werden. Ihre technischen Eigenschaften würden genau dies ermöglichen.

Mit einem nuklearen Sprengsatz an der Spitze, der deutlich leichter wäre als die aktuell geplante konventionelle Nutzlast von acht Tonnen, könnte sie nicht nur als Abschreckung gegen Nordkorea, sondern auch gegen das in der Region immer aggressiver agierende China verwendet werden.

Schon die Stationierung des US-Raketenabwehrsystems THAAD auf der Halbinsel im Jahr 2017 eine harsche Reaktion aus Peking ausgelöst. Mit der Hyunmoo-5 bekommt Seoul nun eine Offensivwaffe, deren Reichweite und Präzision auch Chinas strategische Infrastruktur erreichen könnte – eine stille Botschaft in Richtung der Regionalmacht, die in Seoul zunehmend als Herausforderung gilt.

Seit der ersten Amtszeit von Donald Trump, der damals auffällige Affinität zu Nordkoreas Diktator Kim Jong-un zeigte, hat die südkoreanische Innenpolitik zudem einen Stimmungswandel vollzogen. Angesichts des Atomarsenals Nordkoreas mehren sich Stimmen, die eine eigenständige nukleare Abschreckung fordern. In Meinungsumfragen befürwortet aktuell eine Mehrheit der Bevölkerung den Erwerb eigener Atomwaffen. Präsident Yoon Suk-yeol sorgte Anfang 2023 mit der Aussage für Aufsehen, Südkorea könne Nuklearwaffen entwickeln, falls die Abschreckung durch die USA nicht mehr ausreiche.

Zwar wurde diese Äußerung später relativiert, doch sie verdeutlichte den innenpolitischen Druck, der auf der Regierung lastet. Die Hyunmoo-5 steht nicht nur für die militärische Fähigkeit zur Abschreckung, sondern auch für das wachsende Bedürfnis, sich in sicherheitspolitischer Hinsicht unabhängiger von Washington zu machen.

Auch fehlt es Südkorea nicht am Know-how für die Bombe: Im Land laufen seit Jahrzehnten nukleare Reaktoren zur Energieerzeugung, die im Ernstfall auch zur Erzeugung von waffenfähigen Plutonium dienen können. Die technische Entwicklung von Sprengköpfen ist für ein technisch hochentwickeltes Land wie Südkorea ohnehin kein Problem.

Die Kombination aus ziviler Nukleartechnik, weit entwickelter Raketenindustrie und wachsendem innenpolitischen Druck zur Bewaffnung schafft die Voraussetzungen dafür, dass Südkorea technisch gesehen nur wenige Schritte von einer eigenen Atombombe entfernt ist. In diesem Licht erscheint die Hyunmoo-5 nicht nur als Antwort auf Nordkoreas Drohkulisse, sondern auch als strategisches Signal an Nachbarn und Verbündete, dass Seoul in Zukunft zu einer eigenen Abschreckung bereit wäre.

Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und „Business Insider Deutschland“ erstellt.

Benedikt Fuest ist Wirtschaftskorrespondent für Innovation, Netzwelt, IT und Rüstungstechnologie.

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