Die frühere Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, 51, geht davon aus, dass eine eigenständige Bundesbehörde wesentlich dazu beitragen könnte, Steuerhinterziehung im Rahmen sogenannter Cum-ex und Cum-cum-Geschäfte einzudämmen. „Cum-ex und Cum-cum, das ist international organisierte Kriminalität, die ganz wesentlich vom Finanzplatz London aus gesteuert wird“, sagte Brorhilker am Dienstagabend beim Club Hamburger Wirtschaftsjournalisten. „Man bräuchte für die bessere Aufklärung dieser Verbrechen eine kleine, schlagkräftige Truppe in einer eigenen Zentralstelle des Bundes.“ Der Personalaufwand dafür müsste kaum höher sein als der heutige Personalbestand von Experten in den zuständigen Finanzministerien der Länder.
Brorhilker arbeitete von 2002 bis 2024 bei der Staatsanwaltschaft Köln, zuletzt als Oberstaatsanwältin. Sie galt im zurückliegenden Jahrzehnt als die in Deutschland renommierteste Strafverfolgerin von Steuerverbrechen im Rahmen von Cum-ex und Cum-cum-Geschäften. Seit 2013 trieb sie wesentliche Ermittlungen dazu voran, 2014 auch mit einer weltweiten Razzia. Brorhilker machte den Mechanismus dieser Art von Steuerhinterziehung damit international transparenter.
Im Jahr 2022 klagte Brorhilker den Hamburger Banker und Miteigner des Hauses M.M. Warburg, Christian Olearius, wegen der Mitwirkung bei Cum-ex-Geschäften an. Das Verfahren vor dem Landgericht Bonn wurde 2024 allerdings eingestellt, weil Olearius wegen seiner angeschlagenen Gesundheit nicht ausreichend verhandlungsfähig war. Olearius seinerseits erstatte Anzeige gegen Brorhilker. Ein mehrere Jahre lang tätiger Untersuchungsausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft versuchte zudem herauszufinden, ob der frühere Hamburger Erste Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) Olearius im Rahmen illegaler Finanz-Transaktionen gedeckt haben könnte, der Ausschuss konnte das aber nicht nachweisen.
Beim Cum-ex-Geschäften geht, sehr vereinfacht gesagt, darum, dass sich Eigner von Aktien Kapitalertragssteuer erstatten lassen, die sie gar nicht gezahlt haben. Dazu werden Aktien kurzfristig zwischen unterschiedlichen Eignern verkauft und zurückgekauft. Bei Cum-cum-Geschäften werden Zahlungen von Kapitalertragssteuern durch kurzfristige Ver- und Rückkäufe um den Stichtag von Dividendenzahlen herum vermieden. Ausländische Eigner übertragen Aktien deutscher Unternehmen kurzfristig auf deutsche Eigner, weil sich diese die Kapitalertragssteuer auf Dividenden vom Finanzamt rückerstatten lassen können. Danach geht die Aktie zurück in den Besitz des – steuerpflichtigen – ausländischen Eigners. Politisch und juristisch werden diese Geschäfte in Deutschland seit Jahren als illegal eingestuft.
Brorhilker geht davon aus, dass Deutschland durch Cum-ex-Geschäfte bislang rund zehn Milliarden Euro Schaden entstanden sind und durch Cum-cum-Geschäfte etwa 28,5 Milliarden Euro. An Cum-cum-Geschäften seien in den vergangenen Jahren vor allem auch Genossenschaftsbanken und Sparkassen beteiligt gewesen. Weil Finanzministerien und Finanzämter diese Steuerverbrechen aus ihrer Sicht nicht konsequent verfolgen, gab sie im April 2024 ihre Tätigkeit als Oberstaatsanwältin auf und beendete ihr Beamtenverhältnis. Im Juni 2024 wurde sie Co-Geschäftsführerin der Bürgerbewegung Finanzwende e.V. in Berlin.
„Insgesamt werden in Deutschland jährlich rund 100 Milliarden Euro an Steuern hinterzogen. Das muss man auch in Relation zur laufenden politischen Debatte um die Schulden und Neuverschuldung der öffentlichen Hand setzen“, sagte Brorhilker. Es bleibe „rätselhaft“, warum die Finanzministerien von Bund und Ländern ihre Handlungsmöglichkeiten nicht deutlich ausbauten.
Einige strukturelle Ursachen dafür benannte sie beim Club Hamburger Wirtschaftsjournalisten allerdings. So sei es zum Beispiel üblich, dass in Finanzministerien viele Fachleute nur etwa zwei Jahre lang auf bestimmten Positionen blieben und dann wieder „wegrotierten“, sagte sie. Würde man hingegen diese Expertise mit einem zeitlichen Horizont von zehn Jahren aufbauen, würde das die Schlagkraft von Ermittlungen erhöhen und den Personalbedarf zugleich senken.
Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland.
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