Das Vorgehen, mit dem die Conterganstiftung über die Anerkennung von potenziellen Betroffenen entscheidet, entspricht nicht den gesetzlichen Vorgaben. Das hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden.

Nach Verkündung des Urteils fließen Tränen - Tränen der Erleichterung und der Anstrengung. Es sind Menschen, die seit Jahren um Anerkennung als Contergan-Geschädigte kämpfen. Dazu gehört auch die Anwältin Karin Buder, die diese Menschen vertritt. Jetzt liegen sie sich in den Armen und Buder strahlt: "Endlich, endlich können die Leute aufatmen. Meine Mandanten und auch ich, wir freuen uns so sehr, das kann ich gar nicht sagen."

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig urteilte gestern über den Fall Thomas K. und stellte fest, dass die Conterganstiftung bei der Entscheidung in seinem Fall offenbar gesetzliche Vorschriften missachtet hat. Das Urteil könnte auch für andere mögliche Betroffene Auswirkungen haben: "Nach dem Urteil gehe ich davon aus, dass bei vielen das Verfahren rechtswidrig gelaufen ist und sie eine Chance haben, mit einem neuen Antrag zu Erfolg zu kommen", sagt Buder. 

Wer von der Stiftung als contergangeschädigt anerkannt wird, hat Anspruch auf Entschädigungszahlungen, unter anderem eine sogenannte Contergan-Rente. Finanziert werden die Leistungen seit 1997 vom Bund. Dabei kann es im Einzelfall um mehrere Tausend Euro pro Monat gehen.

Conterganstiftung muss sich Fall erneut anschauen

tagesschau24, 09.07.2025 17:35 Uhr

Jahrelanges Warten auf Anerkennung

Seit mehr als 14 Jahren versucht Thomas K. als Contergan-Geschädigter anerkannt zu werden. Seine Mutter nahm während der Schwangerschaft Thalidomid, sagt er. Sein Vater habe dies bestätigt. Thalidomid ist der Wirkstoff des Schlaf- und Beruhigungsmittels Contergan.  

Contergan kam 1957 auf den Markt. Rezeptfrei und frei verkäuflich wurde es zwischen 1957 und 1961 zu einem beliebten Schlafmittel der Deutschen. Heute steht es für einen der größten Medizinskandale der Bundesrepublik. Hergestellt hat es die Firma Chemie Grünenthal aus Stolberg bei Aachen. Da es unter anderem als "völlig ungiftig" beworben wurde, nahmen es auch viele Schwangere ein. Und so kamen weltweit etwa 10.000 Babys mit teils schweren Fehlbildungen zur Welt. In Deutschland waren es etwa 5.000, von denen rund 40 Prozent kurz nach der Geburt oder im Säuglingsalter starben.

Gerechtigkeit - und Geld

Thomas K. wurde im November 1961 geboren. Im gleichen Jahr mehrten sich die Berichte, dass Contergan bei Einnahme während der Schwangerschaft zu Fehlbildungen bei Kindern führen könnte. Schließlich wurde es vom Markt genommen. K. hat unter anderem Fehlbildungen an beiden Daumen und am Kiefer, darüberhinaus diverse weitere gesundheitliche Probleme. "In der Schule wurde ich als Neandertaler verspottet - da habe ich schon sehr gelitten", erzählt er.

Im Alltag würden ihm seine Daumen immer wieder Schwierigkeiten machen, etwa beim Schreiben, Kartoffelschälen oder beim Bedienen eines Smartphones, sagt er. 2011 stellte er zum ersten Mal einen Antrag auf Anerkennung und Rente bei der Conterganstiftung, nachdem eine Bekannte ihn darauf hinwies, dass das wieder möglich sei.

Bei Thomas K. entschied die Stiftung zunächst, dass ein Conterganschaden nicht mit der notwendigen hinreichenden Wahrscheinlichkeit bestätigt werden könne. Denn in seinem Fall kämen auch andere Ursachen für seine Körperschäden in Betracht, so die Stiftung. Außerdem entspräche das Gesamtbild seiner Schäden nicht typischerweise einem Thalidomid-Fall. K. beschloss im Jahr 2017, die Entscheidung der Stiftung vor Gericht anzufechten. Es geht ihm nicht nur ums Geld, sagt er, sondern auch um Gerechtigkeit. 

Die meisten Anträge werden abgelehnt

Diese Jahre haben Thomas K. zermürbt. "Ich rechne mit gar nichts mehr. Wenn sich das so lange hinzieht, hofft man auf ein Ende, egal wie dieses aussieht", sagte er noch wenige Tage vor der Urteilsverkündung in Leipzig. Sein Kampf um Anerkennung ist einer, den viele Menschen teilen. Seit 2009 wurden 1.053 Neu-Anträge bei der Conterganstiftung gestellt. 890 davon wurden abgelehnt, rund ein Viertel aufgrund auszuschließender Geburtenjahrgänge.  

Auch Marion Gottreich-Früh war zusammen mit ihrer Mutter im Gericht. Sie warte schon seit 16 Jahren auf ihre Anerkennung als Contergangeschädigte, sagt sie. Beide wünschten sich von dem Urteil ein positives Signal: "Eine Beruhigung, dass mein Kind versorgt ist", erzählt die Mutter. Denn sie hätten beide viel gelitten. "Ich hoffe jetzt, dass es dem Ende zugeht und ich in Ruhe einschlafen kann - für immer."

Gesetzeswidrige Entscheidungsfindung der Kommission

Vor Gericht ging es nun unter anderem um die Entscheidungsfindung innerhalb der medizinischen Kommission der Conterganstiftung. Über die mögliche Missachtung gesetzlicher Vorschriften bei der Prüfung von Fällen berichteten WDR, NDR und SZ bereits 2023. Im sogenannten Conterganstiftungsgesetz heißt es, dass eine "aus mindestens fünf Mitgliedern bestehende Kommission" die Anträge prüfe und entscheide, ob ein Contergan-Schadensfall vorliegt. Der Vorsitzende müsse Jurist sein, die anderen Mitglieder medizinische Sachverständige. In Zweifelsfällen sollen sie gutachterliche Stellungnahmen einholen.

Doch offenbar waren entgegen dem Gesetz nicht alle der zu diesem Zeitpunkt 22 Kommissionsmitglieder an der Entscheidung beteiligt, wie bereits das Oberverwaltungsgericht in Münster feststellte und das Bundesverwaltungsgericht jetzt bestätigte. "Der Fehler, der damals gemacht wurde, ist, dass die nicht als Gremium entschieden haben, sondern nur die Einzelvoten addiert worden sind durch den Vorsitzenden", erklärt Dieter Hackler, der Vorstandsvorsitzende der Conterganstiftung. Das werde jetzt richtig gestellt und der Fall neu entschieden.

Damit bedeutet das Urteil für Thomas K. zwar noch keine Anerkennung. Doch die Conterganstiftung wird seinen Fall nun wie gesetzlich vorgeschrieben erneut prüfen müssen. "Meiner Ansicht nach sieht es dann gut aus für meinen Mandanten", prognostiziert Anwältin Buder. Die Wahrscheinlichkeit sei aus ihrer Sicht dann sehr viel höher, dass er anerkannt werde.

Eine Frage der Wahrscheinlichkeit

Ein weiterer Teil des Urteils in Leipzig war die Frage nach der Wahrscheinlichkeit, mit der eine Schädigung tatsächlich durch Contergan hervorgerufen wurde. In der Vorinstanz entschied das Oberverwaltungsgericht in Münster noch, dass es für eine Anerkennung ausreichen müsse, dass die Thalidomideinnahme für die Fehlbildungen gleichermaßen wahrscheinlich sei wie eine andere Ursache. Das hätte für Betroffene eine leichtere Anerkennung und damit auch einen leichteren Zugang zu Entschädigungszahlungen bedeuten können. 

Doch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte diese Auffassung nicht. Zwar sei kein vollständiger Beweis eines ursächlichen Zusammenhangs nötig. Doch wenn mehrere Ursachen für die Körperschäden infrage kommen, dann muss aus Sicht des obersten deutschen Verwaltungsgerichts die Einnahme von Contergan die wahrscheinlichste dieser Ursachen sein. Nur dann könne man die Schädigung dem Medikament zurechnen, entschied das Gericht. Laut der Conterganstiftung entspricht dies ihrer "bisherigen Praxis".  

Ob die Einnahme von Contergan die wahrscheinlichste Ursache ist, müssen die Conterganstiftung und auch die Gerichte in Zukunft bei ihren Entscheidungen sorgfältig prüfen, heißt es sinngemäß in der Pressemitteilung zum Urteil. Anwältin Buder sieht darin durchaus einen Unterschied zum Status quo, der vor den Entscheidungen der Gerichte galt: "Nach dieser Entscheidung müsste die Stiftung genau ermitteln, also auch Gentests machen." Dadurch ließen sich viele genetische Ursachen ausschließen und Betroffene hätten nun eine echte Chance auf Anerkennung, erklärt die Anwältin. 

Marion Gottreich-Früh gibt das neue Kraft: "Wir geben nicht auf und wir kämpfen weiter. Ich will nur hoffen, dass es nicht nochmal 16 Jahre sind."

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