Eigentlich sollte der Bundestag heute über die SPD-Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, Brosius-Gersdorf, abstimmen. Doch SPD und Union wollen den Punkt von der Tagesordnung nehmen. Neben grundsätzlicher Kritik gibt es auch Bedenken wegen ihrer Doktorarbeit.
Der Bundestag hatte für heute geplant, über drei neue Richterinnen und Richter für das Bundesverfassungsgericht abzustimmen. Doch derzeit ist unklar, ob die Wahl über alle Kandidaten stattfindet - und ob überhaupt gewählt wird. Die Sitzung des Bundestags wird nach einer Unterbrechung mit einer Debatte zur Tagesordnung fortgesetzt.
Kolja Schwartz, SWR, zum Streit um Verfassungsrichterwahl und Unabhängigkeit des Gerichts
tagesschau24, 11.07.2025 11:00 UhrDer Grund für die zunächst verschobene Wahl sind Einwände gegen die von der SPD aufgestellte Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf. Neben grundsätzlichen Bedenken in der Unionsfraktion gibt es nun offenbar Kritik an der Doktorarbeit der Juristin. Deshalb fordert die Union, dass die SPD ihren Vorschlag zurückzieht. Das erfuhr das ARD-Hauptstadtstudio. Die Vorwürfe müssten erst aufgearbeitet werden.
Ob die SPD dem nachkommt, ist offen. Zunächst berief die Bundestagsfraktion der Partei eine Sondersitzung ein. Aus der Unionsfraktion hieß es, man werde direkt Gespräche mit der SPD aufnehmen. Ziel sei, heute nur zwei Richter zu wählen.
Vorbehalte in der Union
Die SPD hatte für die Richterwahl zwei Kandidatinnen vorschlagen, Brosius-Gersdorf und die Rechtswissenschaftlerin Ann-Katrin Kaufhold, die Union den bisherigen Richter am Bundesarbeitsgericht, Günter Spinner.
Gegen Brosius-Gersdorf gab es schon in den vergangenen Tagen Vorbehalte in der Union. Grund war insbesondere ihre liberale Haltung zum Thema Abtreibung. Der Unionsfraktionsvorsitzende Jens Spahn und Kanzler Friedrich Merz (beide CDU) hätten der SPD die Entscheidung mitgeteilt, die Wahl von Brosius-Gersdorf abzusetzen, hieß es aus der Unionsfraktion. Ein Plagiatsverdacht ziehe ihre fachliche Expertise in Zweifel. Diese sei "aber zentrales Argument für die Wahl der Kandidatin. Eine angehende Verfassungsrichterin muss über jeden Zweifel erhaben sein."
Laut Stefan Weber, der regelmäßig Doktorarbeiten von Politikern und Prominenten überprüft, gibt es in der Dissertation von Brosius-Gersdorf "23 Verdachtsstellen auf Kollusion und Quellenplagiate". Der CDU-Politiker Klaus-Peter Willsch sagte der Bild-Zeitung, die Doktorarbeit der Juristin und die Habilitationsschrift ihres Ehemannes enthielten "fast identische Passagen". Auch Zitierfehler seien "in beiden Werken identisch".
Bundesratspräsidentin Rehlinger kritisiert "missliches Verfahren"
Die Forderung der Union, Brosius-Gersdorf als Kandidatin zurückzuziehen, rufen sowohl in den Reihen des Koalitionspartners als auch bei den Grünen deutlichen Widerstand hervor. "Ich finde es auch ausdrücklich bedauerlich, wie man hier mit einer Richterin und einer Frau umgeht", kritisierte Bundesratspräsidentin und SPD-Politikerin Anke Rehlinger. Der hervorgerufene Eklat um die Richterwahl sei "ein außerordentlich missliches Verfahren und habe zur Folge, dass "ein Stück weit auf jeden Fall auch schon durch dieses Verfahren die Person, um die es geht", Schaden davontrage. Es gehe aber auch um die Reputation eines Verfassungsorgans, des Bundesverfassungsgerichts. "Insofern ist das kein guter Weg, der bislang hier beschritten worden ist", betonte Rehlinger.
Für die schwarz-rote Koalition könnte sich der Streit um die Richterwahl tatsächlich zu einer "echten Belastungsprobe" entwickeln, schätzt ARD-Korrespondentin Claudia Kornmeier. Gerade wenn die Parteien so früh in der Legislaturperiode bei einer solchen Sache nicht zusammenkommen. Denn normalerweise liefen die Richterwahlen "immer recht geräuschlos ab", mit einer "Abmachung der Parteien" den nominierten Kandidaten gegenseitig zuzustimmen. Doch der Eklat könne künftig noch andere Folgen haben. Dann kommt laut Kornmeier vielleicht die Frage auf: "Wer will sich noch für das Amt zur Verfügung stellen, wenn ihm vor der Wahl so etwas droht?"
Claudia Kornmeier, ARD Berlin, zur Verfassungsrichterwahl im Bundestag
tagesschau24, 11.07.2025 10:00 UhrGrüne prangern "Desaster für das Parlament" an
Die Grünen sprachen von einem "Desaster für das Parlament", zu dem sich die geplante Richterwahl entwickelt habe. Eine Kandidatin in dieser Weise öffentlich zu diffamieren und in den Schmutz zu ziehen, sei beschämend, äußerte sich die Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann. Sie sei "entsetzt" über das Vorgehen der Union. "Das ist kein Roulette, das man hier spielt", mahnte sie. Es gehe "um das Ansehen des höchsten Gerichtes."
Gemeinsam mit ihrer Co-Vorsitzenden Katharina Dröge verwies Haßelmann darauf, dass die Kandidaten für die drei eigentlich geplanten Wahlen mit Zweidrittelmehrheiten im Wahlausschuss des Bundestages nominiert worden seien. Und nun wolle die Union einer Kandidatin die Stimmen entziehen - für die Grünen ein noch nie dagewesener Vorgang. Aus Sicht der Grünen muss die komplette Wahl aller Kandidaten vorerst abgesagt werden. Einen entsprechenden Antrag werde die Partei im Bundestag einbringen.
Linke gegen neuen Wahl-Termin
Die Linkspartei hat sich gegen die Absetzung der Abstimmung über die SPD-Kandidatin Brosius-Gersdorf ausgesprochen. Einer entsprechenden Tagesordnungsänderung werde man nicht zustimmen, hieß es aus den Reihen der Bundestagsfraktion.
Zuvor hatte vorrangig die anstehende Abstimmung über den Unionskandidaten Günter Spinner für Unstimmigkeiten zwischen Linken und Union geführt. Für die Richterwahl wird eine Zweidrittelmehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Bundestagsabgeordneten gebraucht. Wollen Union und SPD nicht von der AfD abhängig sein, brauchen sie neben Stimmen der Grünen auch Unterstützung der Linken.
Die Linke hatte ihre Zustimmung zu Spinner eigentlich von Gesprächen mit der Union abhängig gemacht. Darauf ging die Union aber nicht ein. Trotzdem will die Linkspartei nun für Spinner stimmen, sollte heute noch eine Wahl stattfinden. Die Partei wolle der AfD nicht den Triumph gönnen, einen Verfassungsrichter von ihren Gnaden einzusetzen.
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