Es gibt wenige popkulturelle Rituale, die so zuverlässig eingeübt sind wie der Abgesang. Wahlweise trifft es da Jugend- und Subkulturen oder gleich auch einmal ganze Genres. Und diesen Sommer hat es Deutschrap erwischt. Ironisch dabei ist, dass der Grabredner ausgerechnet ein seit über mehrere Generationen selbst totgeglaubter Protagonist aus den Anfangstagen des Genres ist, MC Rene nämlich, der seine Blütezeit als Moderator des Viva-HipHop-Formats „Mixery Raw Deluxe“ Anfang des neuen Jahrhunderts hatte, zu einer Zeit, als die sogenannten jungen Leute noch vor dem Fernseher gesessen haben, also zu einer Zeit, die verdammt lange zurückliegt.
MC Rene äußerte sich jetzt jedenfalls mit einem vielbeachteten Instagram-Post zum Status quo der Szene. Anlass war das diesjährige Splash-Festival, das alljährliche Deutschrap-Klassentreffen, dessen Line-up er genauso kritisch sieht wie das gegenwärtige Publikum. „Das Splash ist längst mehr als ein Musikfestival“, schreibt er. „Es ist ein Spiegelbild. Es zeigt eine Gesellschaft, die lieber Memes feiert als Inhalte, lieber Performance als Substanz kauft.“ Der Post ging viral und eröffnete eine Debatte um die Frage, wie es um Deutschrap steht und ob das Genre wirklich so tot ist, wie viele Kommentatoren weit über MC Rene hinaus das konstatieren.
Die Frage ist spannend, denn auf den ersten Blick erscheint die Situation durchaus paradox. Rein quantitativ ist Deutschrap so erfolgreich wie nie zuvor. Deutscher Rap dominiert die Spotify-Playlists und somit die Charts, zugleich geht der neue Erfolg aber auch mit einem radikalen Wandel der Szene einher. Tatsächlich ist Deutschrap keine subkulturelle Bewegung mehr, die sich durch eigene, eingeübte Codes, durch eine eigene Sprache und einem eigenen kulturellen Verständnis auszeichnet, das sich einst zwischen Battlerap-Contests, überlangen Trash-Interviewformaten, Memes und Rapupdate-Kommentaren etablierte.
Deutschrap ist nun Pop und Pop ist der Tod einer Subkultur
Deutscher HipHop ist längst im Mainstream-Pop aufgegangen. Die erfolgreichsten Artists der Gegenwart werden zwar weiterhin als Deutschrap klassifiziert, öffnen sich musikalisch und kulturell aber einer sehr breiten Masse, die mit dem klassischen Zielpublikum der letzten Jahre kaum noch etwas zu tun hat. Von Apache 207 zu Shirin David von Ski Aggu zu Ikkimel ist eine Generation an Künstlern herangewachsen, die zwar noch von der klassischen Szene geprägt wurde, sie aber nicht mehr repräsentieren will. Stattdessen legt man das als zu eng empfundene Deutschrap-Korsett ab und transformiert den eigenen Sound und die eigene Ästhetik in ein radio- und hittaugliches Format, das nicht mehr auf den kleinen, eingeschworenen Kreis, sondern auf den Mainstream zielt.
Jetzt könnte man einwenden, dass Evolution im HipHop grundsätzlich keine neue Entwicklung, sondern, im Gegenteil, ein essenzielles Wesensmerkmal der Kultur ist. Als Aggro Berlin Anfang der 2000er-Jahre den Untergrund in den Mainstream brachte, war das Gesamtprodukt, das man verkörperte, nichts anderes als ein Angriff auf die etablierten Werte der Szene aus den 1990er-Jahren. Auch eine Generation später haben Künstler wie Kollegah und Farid Bang die klassischen und über Jahrzehnte hinweg heiligen Gewissheiten des Genres bewusst attackiert. Die vier klassischen Säulen des HipHop (DJing, Rap, Breakdance und Graffiti) rissen sie ein und ersetzen sie durch ihre eigene Definition von HipHop-Werten: Geld zählen, Girls klären, Gangbang und McFit. Eine Interpretation übrigens, die sich durchgesetzt hat.
Aber es gibt einen Unterschied zu den heutigen Entwicklungen. Damals wurden Werte umdefiniert, etwas Neues hat das Alte ersetzt, und aus der Reibung zwischen den Generationen entstand die Energie, die eine Szene mit all ihren Spannungen immer wieder revitalisiert hat. Heute werden keine neuen Werte, Ideen oder Ästhetiken mehr geschaffen, sie werden einfach aufgelöst. Deutschrap geht bloß im Pop auf. Und ja, damit wird Deutschrap so groß, bunt, breit und erfolgreich, wie er es gerade ist, er wird aber auch so beliebig wie nie zuvor. Wer heute Deutschrap hört, der hört auch Schlager, Techno, Pop, Ballermann oder einfach nur Radio.
Ein Shindy in rosa Gay-Bitch-Ästhetik, ein SSIO im Hype
Wer vom Mainstream gefressen wird, der tauscht Erfolg gegen kulturelle Potenz. Und das führt dazu, dass das tragende Fundament einer Subkultur zerbricht. Festivals werden nicht mehr von distinktiv Gleichgesinnten, sondern von der Beliebigkeit einer Generation Yolo geflutet, Mode als Erkennungscode spielt keine Rolle mehr, und die großen Stars sind lange abgetreten.
Bushido hat das Gangsterimage ganz bewusst gegen wechselnde RTL-Formate eingetauscht, Kollegah will jetzt nur noch Influencer sein, und selbst die einst für die Szene so wichtigen HipHop-Medien haben keinerlei Bedeutung mehr. Statt Szeneberichterstattung wird nun im zugemüllten Zimmer der Twitchstream für eine Handvoll Zuschauer angeschmissen. Einstige Rapgrößen finden derweil ihre letzten finanziellen Brotkrumen in würdelosen Casino-Streams.
Natürlich gibt es noch immer Ausnahmen, der Bonner Rapper SSIO löst mit der Promo zu seinem neuen Album einen veritablen Hype aus, ein Shindy erfindet sich in einer funkelnd rosa Gay-Bitch-Ästhetik neu und euphorisiert damit nicht bloß das rapprogessive Lager. Und natürlich gibt es auch einen spannenden Untergrund (Lacazette), sowie eine nachwachsende Generation mit Superstarpotenzial (Pashanim, Yazeek).
Dennoch sind das eher Leuchtfeuer in einer doch kulturell sehr dunklen Nacht: Die einstigen Säulen, die die Szene getragen haben, sind längst abgerissen. Deutschrap ist somit zwar nicht tot. Aber die Szene, die das Genre getragen hat, liegt zweifelsohne im Sterben.
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