Gleich beim Eintritt in das tageslichtdurchflutete Grand Palais empfängt die Besucher der Paris Photo eine 36 Meter breite Wand: Die Pariser Galerie Jérôme Poggi hat dort über sechzig Fotografien von Sophie Ristelhueber zu einer monumentalen Bildfläche gefügt. Man sieht vom Krieg gezeichnete Menschen, verwundete Landschaften, geheimnisvolle Stillleben.

Vier Wochen lang war Ristelhueber im Herbst 1991 mit Flugzeug und Hubschrauber über die Wüste Kuwaits geflogen, um die Spuren des Krieges zu fotografieren, der ein halbes Jahr zuvor dort getobt hatte. Manche dieser Spuren stehen in der Landschaft wie abstrakte Skulpturen. Auf den Aufnahmen ist kaum auszumachen, ob man Trümmer oder architektonische Reste sieht. Als Fotomotive wirken sie banal und erhaben zugleich.

„Fait“ – so heißt die Serie von mehr als siebzig Bildern, die Ristelhueber während des Golfkriegs aufnahm. Einige hängen nun auf der riesigen Wand im Grand Palais, jener gläsernen Festarchitektur des 19. Jahrhunderts, die noch immer so blendet wie zu den Weltausstellungen. Niemand geht hier einfach vorbei; fast alle bleiben gebannt davor stehen, schreiten die einzelnen Aufnahmen ab.

„Fait“ bedeutet im Französischen sowohl „gemacht/getan“ als auch „Fakt“. In „Fait #68“ sieht man vor Feuern und Rauchschwaden am Horizont ein solches Faktum, einen auf die Seite gestürzten, geborstenen Panzer. Gleichzeitig sieht das zum ruinösen Objekt degradierte Kriegsgerät aus wie eine monumentale aber ramponierte Spiegelreflexkamera, deren Weitwinkelobjektiv aus dem Bajonett gebrochen ist.

Die 1949 in Paris geborene Ristelhueber wurde in diesem Jahr mit dem Hasselblad Award für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Ihre Retrospektive auf der Paris Photo ist eine eindrucksvolle Hommage an die Reportagefotografie – und ein Appell, die Fotografie als Dokumentar und künstlerischer Verstärker der Wirklichkeit zu verteidigen.

Die Paris Photo wird immer weiblicher

Florence Bourgeois, seit zehn Jahren Direktorin der Paris Photo, hat die rund 180 teilnehmenden Galerien (dazu über 40 Buchverlage) ermuntert, an ihren Ständen Einzelausstellungen zu inszenieren. Ein kluger Zug, der die Messe nicht nur zum weltweit wohl wichtigsten kommerziellen Markt für Fotografie macht, sondern noch publikumswirksamer in ein temporäres Museum verwandelt.

Eine Wiederentdeckung ist Marie-Laure de Decker. Die französische Fotojournalistin (1947–2023) stand lange im Schatten ihrer männlichen Kollegen und ist hierzulande kaum bekannt. Die Galerien Anne-Laure Buffard und In Camera, beide aus Paris, zeigen eine Soloschau der in Algerien geborenen Fotografin, der man nicht nur in den vielen Selbstporträts ansieht, dass sie ihre Karriere einst als Model startet.

Auch die Soldaten, die sie Mitte der 1970er-Jahre im Tschad fotografierte, ließ sie vor ihrer Kamera posieren. Mit dem zentralafrikanischen Stamm der Wodaabe lebte Decker mehrere Jahre und hinterließ ein intimes Langzeitporträt des nomadisch lebenden Volks. Auf der Messe eine der stillsten aber stärksten Präsentationen.

Die Paris Photo treibt den Paradigmenwechsel selbstbewusst voran: 39 Prozent der Soloshows stammen von Fotografinnen, in der Nachwuchssektion „Emergence“ sind es 70 Prozent. Eine der spannendsten Positionen dort zu sehen am Stand der Homecoming Gallery aus Amsterdam: „Together, in One Breath“ der Amerikanerin Mia Weiner, die digital fotografiert und ihre poppigen Bilder auf dem Webstuhl ausdruckt – eine gleichzeitig altmodische wie zeitgemäße Verschränkung von Pixel und Faden.

In der Hauptsektion begegnet man Dokumentarfotos von Sibylle Bergemann (Galerie Loock, Berlin), einer konzeptuellen Installation von Martha Rosler (Nagel Draxler, Berlin/Köln), den Albuminabzügen von der Fotopionierin Julia Margaret Cameron (Hans P. Kraus Jr., New York) oder Porträts von Erica Lennard (La Galerie Rouge, Paris). Zwischen Dokumentation, Kunsthandwerk und Post-Art-Déco bewegt sich Raphaëlle Peria, die Landschaften ihrer Kindheit fotografiert und deren Bäume und Sträucher anschließend mit einem Stichel aufkratzt – reliefartig, verletzlich, und als Unikate auch einzigartig.

Keine andere Messe zeigt die stilistische und technische Spannweite der Fotografie so umfassend. Besonders überzeugen die historischen Positionen: etwa eine Serie von Helen Levitt, die zwischen 1938 und 1940 Kreidegraffiti in New York festhielt (Zander Galerie, Köln/Paris).

Oder die Street-Photography von Fred Herzog, der sich als deutscher Auswanderer 1953 im kanadischen Vancouver niederließ. Auch er machte sich als Street Photographer einen Namen, vor allem aber als Kolorist. Die lang künstlerisch geschmähte Farbfotografie kam in Herzogs Dunkelkammer und auf dem legendären Kodachrome-Filmmaterial groß raus. Zu sehen sind die Bilder am Stand der Equinox Gallery aus Vancouver, die auch Herzogs Nachlass betreut.

Dass kunstwissenschaftlich und fotohistorisch abgesicherte Qualität und jüngere Arbeiten bekannter Fotografen viele Stände dominieren, man riskantere Positionen dagegen eher suchen muss, ist wohl der wirtschaftlichen Lage geschuldet. Der globale Kunstmarkt schrumpfte 2024 um 12 Prozent – auch die Fotografie blieb nicht verschont. „2025 war ein schwieriges Jahr für viele Galerien, auch für die großen“, sagt Bourgeois im Gespräch mit WELT. „Sparsamkeit ist das Gebot der Stunde und angesichts globaler Krisen auch verständlich.“

Seit Brexit und Pandemie erlebt Paris eine Renaissance als Kunstmetropole – und mit ihr die Fotoszene. Private, finanziell bestens ausgestattet Stiftungen wie die Fondation Louis Vuitton, die Pinault-Sammlung in der Bourse de Commerce und die spektakulär neu eröffnete Fondation Cartier drücken dem Terrain ihren Stempel auf. „Es ist ein Ökosystem“, sagt Bourgeois diplomatisch.

Symbolbild für die Fotografie

Auf die Frage nach der größten Herausforderung des Marktes antwortet sie ohne Zögern: „Die Seele nicht zu verlieren.“ Künstler und Galeristen müssten enger zusammenrücken, Projekte verfolgen, die Sinn ergeben. Das Projekt der Galerie Poggi, Sophie Ristelhuebers berührendes Werk in den Mittelpunkt zu stellen, ist ein gutes Beispiel für dieses Ziel. Und das Foto des umgestürzten Panzers, der aussieht wie eine abgewrackte Kamera, wird plötzlich Symbolbild für die Fotografie selbst.

Denn das Medium steht vor seiner größten Bewährungsprobe: Künstliche Intelligenz. Die generative Bilderzeugung bedroht Urheberrecht und Authentizität, eröffnet aber auch neue künstlerische Wege. Dabei spielt das Thema auf der Messe eine Nebenrolle – doch die noch etwas betulich „Digital“ getaufte Sektion dürfte an KI in den kommenden Jahren nicht mehr vorbeikommen. Auf EDV-Kitsch wie die zu Blumensträußen gebundenen Monitore von Julieta Tarraubella (Rolf Art, Buenos Aires & Tomas Redrado Art, Miami) kann man jedenfalls getrost verzichten.

Positiver fällt Norman Harman auf, mit einer Soloschau bei L’Avant Galerie Vossen (Paris). Jedes seine Bilder beginnt mit Datensätzen aus Fotoarchiven aber auch aus KI-Systemen, an seinen Entwürfen ist die eigene Handschrift ebenso beteiligt wie Algorithmen. Im Endprodukt sieht man analog gemalte Oberflächen, aber auch Strukturen digitaler Pinsel – sein Werk ist so fluid und hybrid wie seine Arbeitsweise.

Wie radikal KI die Bildethik verändert, zeigt ein stiller Schockmoment in einer anderen Koje (Heft Gallery, New York): Dort wird man magisch angezogen von dem Foto eines Mädchens mit stechendem Blick aus graugrünen Augen. Es ist das ikonische „Afghan Girl“, das im Juni 1985 das Cover von „National Geographic“ zierte und bald als die berühmteste Fotografie der Welt galt.

Doch diesmal schaut die seinerzeit nach Pakistan geflüchtete Sharbat Gula nicht mehr in die Kameralinse. Im Bild „The Second Gaze“ des Künstlers Ganbrood schaut sie zur Seite – KI macht’s möglich. Ein immer noch aufrüttelnder Blick, der nun mehr über unsere Gegenwart erzählt als über den Krieg.

Paris Photo, bis 16. November 2025, Grand Palais, Paris

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