In diesem Winter steht der Kunstmarkt vor einem Rembrandt-Feuerwerk. Christie’s offeriert am 3. Dezember in London exquisite Drucke des niederländischen Malers und Grafikers Rembrandt van Rijn (1606–1669). Im Februar 2026 lässt Rivale Sotheby’s in New York den Löwen los: eine naturgetreue, unglaublich lebendige Tierzeichnung des Barock-Genies. Der amerikanische Milliardär und Philanthrop Thomas Kaplan lässt sie zugunsten bedrohter Wildkatzen versteigern.
Doch die Sensation fährt Sotheby’s ebenfalls am 3. Dezember bei der Altmeister-Auktion in London mit einem Gemälde auf, das rund hundert Jahre verschollen war und von dem nur eine schummrige Schwarz-Weiß-Fotografie existierte. Ein um 1660 entstandenes Spätwerk, in dem Rembrandt seinen 1668 mit nur 26 Jahren gestorbenen Sohn Titus malte – oder besser gesagt: in groben Strichen auf die Leinwand drückte.
Rückblende: Im Dezember 2024 sitzt der Reporter im bescheidenen Londoner Büro von George Gordon, der seit 45 Jahren die Sotheby’s-Spürnase für die Alten Meister ist – und staunt. An der Wand des Kämmerleins in der New Bond Street hängt ein unbekanntes Bild mit den eindeutigen Gesichtszügen von Titus van Rijn, die aus einem halben Dutzend anerkannter Rembrandt-Gemälde bekannt sind. Gordon bittet eindringlich um Geheimhaltung der überraschten Beobachtung. Das mysteriöse Stück sei gerade aus Argentinien gekommen, noch unerforscht. Ja, es sei nicht einmal sicher, ob es sich tatsächlich um einen Rembrandt handelt.
Im November 2025, nach einem Jahr „Geheimoperation Rembrandt“ bei Sotheby’s, trifft sich Deputy Chairman Gordon erneut mit WELT AM SONNTAG. Dieses Mal in Amsterdam, der Stadt, in der der Müllersohn Rembrandt aus Leiden seine Weltkarriere begann. Die erste Frage unter dem frisch gereinigten Bild: Ist es definitiv ein „echter“ Rembrandt?
„Wir haben eine lange Reise der Erforschung hinter uns. Nun gibt es keinen Zweifel“, bestätigt George Gordon. „Das Röntgenbild und die Infrarot-Aufnahmen belegen den Werkprozess. Rembrandt selbst hat Veränderungen vorgenommen, die Pinselstriche des Gewandes sind nahezu identisch mit dem auf einem Gemälde seiner Geliebten Hendrickje im Frankfurter Städelmuseum.“
Auf die Frage, welcher Experte den Titus als Rembrandt akzeptiert, nachdem Professor Ernst van de Wetering 2021 verstorben ist, dessen Urteil nahezu päpstlichen Unfehlbarkeitsstatus hatte, zuckt Gordon die Achseln: „Wir müssen seitdem selbst unsere Arbeit machen.“ Das Problem: In einigen Ländern ist es Museumskuratoren nicht mehr erlaubt, sich mit Rembrandt-Expertisen für den Kunstmarkt aus dem Fenster zu lehnen.
Die vom Auktionshaus beauftragten technischen Untersuchungen, an denen unter anderem Petria Noble, die Chefrestauratorin des Amsterdamer Rijksmuseums beteiligt war, enthüllen die tiefere ikonografische Bedeutung des Gemäldes. Rembrandt hat nicht einfach nur seinen Sohn gemalt, sondern Titus in der Gestalt des Evangelisten Johannes. „Wir haben plötzlich einen angedeuteten Adler rechts neben Titus entdeckt, das Wappentier des Evangelisten. Und da noch eine Palme aufragt und Titus hinter seinem Buch tief in sich gekehrt abwärts schaut, steht für mich fest: Es ist Johannes, der auf der griechischen Insel Patmos über seine soeben vollendete Offenbarung sinniert“, erklärt Gordon bestimmt.
Das Wer scheint geklärt. Und das Woher? Der Weg des (nicht signierten) Gemäldes ist verworren. Von den Niederlanden wanderte es nach Leipzig, wo es im 18. Jahrhundert von dem Kaufmann Gottfried Winckler erworben wurde. Der stolze Sammler ließ seine Schätze als Galerie zeichnen, wie es in Vor-Fotografie-Zeiten üblich war. Daher stammt die erste Aufzeichnung des Bildes, das zu jener Zeit noch einen Rundbogen-Abschluss hatte.
Der Trip des Titus-Bildnisses ging nach Wincklers Tod weiter über London nach New York. Im Jahr 1913 ersteigerte der deutsch-amerikanische Kunsthistoriker und Museumsmann Wilhelm Reinhold Valentiner das inzwischen offensichtlich beschnittene Bild auf einer Auktion für 525 Dollar – zurückgestuft als ein Schülerwerk von Carel Fabritius. Valentiner publizierte es dann erstmals 1920 in seinem Text „Schicksal eines Bildes“ als eigenhändigen Rembrandt zusammen mit jenem ominösen Schwarz-Weiß-Foto, das die Qualität des Werkes eher verbarg als erleuchtete.
Nach weiteren Zwischenstationen landete es schließlich beim Stahlmagnaten Fritz Thyssen, der anfangs ein glühender Hitler-Verehrer war. Doch schon um 1935 brach Thyssen mit dem Nazi-Regime, nachdem er sich vergeblich bei Hermann Göring für verfolgte jüdische Politiker eingesetzt hatte. Hitler-Vize und Kunsträuber Göring hatte sich bereits nach dem Thyssen-Rembrandt erkundigt (laut des 2015 erschienen Buches „Die Thyssens als Kunstsammler“), doch es konnte vor dessen Zugriff gerettet werden. Nach seiner Deportierung und Inhaftierung im KZ Sachsenhausen und späterer Internierung durch die Alliierten wanderte Thyssen 1949 nach Buenos Aires aus. Und mit ihm ein Großteil seiner Sammlung.
Die Thyssen-Nachkommen haben das Titus-Bildnis im vergangenen Jahr ins Londoner Auktionshaus geschickt. In wenigen Tagen kommt es zugunsten der Familien-Stiftung unter den Hammer. Der untere Schätzpreis liegt bei umgerechnet 5,7 Millionen Euro. Das klingt bescheiden im Vergleich zu Rembrandts Löwen-Zeichnung, für die mindestens 13 Millionen Euro erwartet werden.
Und Gordon gibt zu: „Man muss sagen, dass der Erhaltungszustand des Gemäldes nicht der allerbeste ist. Wir haben es lediglich reinigen lassen und bewusst nicht tiefgehend restauriert. Man sieht ihm seine Vergangenheit an, was jedoch nicht gegen die malerische Qualität spricht. Es ist ein guter Rembrandt und vollständig von seiner Hand. Es war mir eine Ehre, dass ich ihn bei mir im Büro hatte und täglich studieren durfte.“
Welche künftige Entdeckung hängt jetzt an dem freigewordenen Platz in seinem Büro? Da lächelt der Gentleman – und schweigt.
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