Sie waren beide etwas für Deutschland sehr Ungewöhnliches: sexy Showstars von glamourösem Weltruf. Preußisch diszipliniert, obwohl aus Sachsen. Skandalfrei, dabei professionell meist wenig bekleidet. Kühl erotisch, aber damenhaft. Und dieses makellose, trotzdem spannende Image haben sie nicht nur als Tandem-Show-Act, sondern auch als eineiige Zwillingsschwestern eifersuchtsfrei durchgezogen – bis hin zum gemeinsamen Schluss. Irgendwie hätte man sich wohl auch Alice ohne Elle Kessler – und umgekehrt – gar nicht vorstellen können.
Denn das Geheimnis dieser beiden, in ihrer Entertainment-Erscheinung dem anderen deutschen Nachclubweltstar Marlene Dietrich in ihrer zweiten Sängerinnenkarriere nicht unähnlich, es lag wohl auch darin, dass sie trotz aller Gemeinsamkeit und Ähnlichkeit verschieden waren. Alice, die 30 Minuten Ältere, trat immer zurückhaltender auf als ihre Schwester.
Aber sie haben sich offenbar privat blendend ergänzt. Vermutlich hätte man anhand dieser beiden so charmanten wie gegebenenfalls unnahbaren, hinter ihrer makellosen Fassade sich panzernden Damen spannende Abhandlungen über die faszinierende Dauersymbiose als Zwilling schreiben können. Wenn sie nicht die meiste Zeit ihres sehr besonderen Zusammenlebens von Geburt an so beschäftigt gewesen wären.
Zwei Geschwister starben jung, der Vater trank. Doch sie tanzten. Die am 20. August 1936 im sächsischen Nerchau als Kaessler geborenen Zwillinge verbrachten frühe Lehrjahre im Leipziger Opernballett. 1952 nutzen sie ein Reisevisum als Chance zur Republikflucht aus der DDR. Ihr erstes Engagement hatten sie im Düsseldorfer Palladium, aus dem sie der damalige Chef des Pariser Lido heraus als Showtänzerinnen verpflichtete. Es war der Beginn einer (abgesehen von Catarina Valente und Marlene Charell) einzigartige Showbiz-Karriere „made in Germany“. Bei Dean Martin, Frank Sinatra oder Ed Sullivan, Sammy Davis Jr., Harry Belafonte oder Marcello Mastroianni wurden sie in deren TV-Shows in den Sixties in den USA und Italien gefeiert als Deutschlands erfolgreichster Exportartikel, als gleich zweifache Verkörperung des „Fräuleinwunders“.
Sie spielten in Revuefilmen, das Kino konnte aber abendfüllend mit ihnen nichts anfangen. Sie sangen, aber Schlagererfolge hatten sie nur als Trio mit Peter Kraus: „Honey Moon“, „Mondschein und Liebe“ und „Hallo Blondie“ hießen ihre Hits. Für Deutschland nahmen die Kesslers 1959 am Grand Prix Eurovision teil und erreichten mit „Heute Abend wollen wir tanzen geh’n“ den achten von elf Plätzen.
Später standen sie in Deutschland für die großen Samstagabendshows von Kulenkampff, Frankenfeld und Peter Alexander vor der Kamera als die aus der Anonymität der Showgirls hervorgetretenen Tanzsirenen auf den Glitzertreppen. Sie reüssierten als „Gemelle Kessler“ vor allem im der Frau zugewandten italienischen Fernsehen und in über 1000 Liveauftritten begeisterten sie das Publikum in Las Vegas, New York, Buenos Aires, Caracas, Tokyo oder Sydney. Nur geheiratet haben sie nie, denn selbst Elvis war ihnen zu schüchtern! Fast 24 Jahre hatten sie ab 1962 in Italien ihren Erstwohnsitz. 1975 erschienen im dortigen „Playboy“ dann doch Nacktbilder von den 39-Jährigen – das Heft war sofort ausverkauft. Zu ihrem 50. Geburtstag ehrte sie das ARD-Fernsehen mit einer „Show mal Zwei“.
Das schien ewig so weiterzugehen, man sah sie eigentlich alterslos auf einer Art endlosen Showtreppe: zwei Legenden, vier Beine an zwei deutschen Luxuskörpern, die tanzten, steppten, sangen, moderierten vom Sansibar bis San Remo, überall wo es mondän und paillettig zuging im Glitzbiz. 1976 traten sie am Münchner Gärtnerplatztheater als Anna I und Anna II in dem Ballett „Die sieben Todsünden“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill auf, später waren sie in Stephen Sondheims „Follies“ im Berliner Theater des Westens dabei und mit über 80 noch im Udo Jürgens-Musical „Ich war noch niemals in New York“. Doch irgendwann, sehr geschickt haben sie das gemacht, saßen sie, vorwiegend an ihrem Heimatort München als gut gereiften Showladys nur noch im Premierenpublikum.
Aber erst 2022 war großes Ausräumen angesagt. Ihre meist in Frankreich oder Italien von Folco oder Corrado Colabucci gefertigten Kostüme aus Pailletten, Perlen und Federn, Chiffon und Seide sollten neue Besitzer finden. Die konnten sich in diesen Kleidern dann als Meerjungfrauen anno 1956, Las-Vegas-Sirenen im Hosenanzug Anno 1966 oder Lido-Girls im Mini-Neckholderkleid Anno 1976 fühlen. „Auf der Bühne waren wir nicht wirklich angezogen, aber auch nicht ausgezogen. Unsere Arbeitskleidung war sehr sexy aber nie vulgär und für uns wie eine zweite Haut“, so Ellen Kessler.
Garderobe zugunsten der Opfer der Überschwemmungskatastrophe im Ahrtal versteigert
Der Herbstputz in ihrem Grünwalder Haus mit den zwei Wohnungen und dem einzigen Eingang sollte die Kesslers freimachen von dem, was sich in über 40 Bühnenjahren so angesammelt hat – und was ihnen immer noch passte. In einer Benefiz-Auktion versteigerten die Träller-Damen, die mit immer noch wohlgeformten Arbeitsinstrumenten patent auf realem Boden standen, sehr karitativ die nun nicht mehr gebrauchte Garderobe zugunsten der Opfer der Überschwemmungskatastrophe im Ahrtal.
Schon 2006 vermachten Alice und Ellen Kessler ihr Geld als Nachlass zu Lebzeiten der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“. Trotz zeitweise fester Beziehungen blieben sie immer unverheiratet, wohnten seit 1986 im Münchner Doppelhaus. Dort wurde sie am 17. November von der Polizei gefunden. Vereint bis in den Tod. Laut „Bild“ hatten sie „begleitete Sterbehilfe“ in Anspruch genommen. Sie möchten in derselben Urne beerdigt werden, zusammen mit der Asche ihrer geliebten Mutter Elsa und der ihres Hundes Yello. So ist es testamentarisch verfügt.
Deutsch diszipliniert eben. Mit Flair und Aura. Nach Kessler-Art.
Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, bieten verschiedenen Organisationen Hilfe und Auswege an: Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222. Dort sind Mitarbeiter rund um die Uhr erreichbar, mit ihnen können Sorgen und Ängste geteilt werden. Die Telefonseelsorge bietet auch einen Chat an: telefonseelsorge.de
Eine Übersicht weiterer Angebote hat die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention unter suizidprophylaxe.de aufgelistet.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.