Am 1. Mai beteuerte der Untersuchungshäftling mit der Nummer 37452-054 noch einmal seine umfassende Unschuld vor einem Gericht, lehnte einen Vergleich ab und sieht nun seinem Prozess entgegen, in dem nicht nur gegen ihn verhandelt werden wird. Es geht auch um das Popgeschäft im Allgemeinen und den Hip-Hop im Besonderen. Sean Combs sitzt seit acht Monaten im Metropolitan Detention Center in New York. Als Rapper und Mogul, als P. Diddy und Puff Daddy. Und als wendete sich seine eigene Hymne gegen ihn: „Bad Boy for Life“.

Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe sind so erdrückend wie erschütternd. Schon in ihrer ersten, 14 Seiten langen Anklage warf ihm die Staatsanwaltschaft sexuellen Missbrauch Minderjähriger und Menschenhandel vor, Prostitution, Entführung, Zwangsarbeit, Bestechung, Drogenhandel und Justizbehinderung. Er habe Frauen „missbraucht, bedroht und genötigt, ihm seine sexuellen Wünsche zu erfüllen, seinen Ruf zu schützen und sein Verhalten zu verheimlichen“. Dabei habe er sich auf sein Imperium gestützt, auf seine Angestellten und Berater, Leibwächter und Assistenten, Mitwisser, Lakaien und Claqueure. Das System P. Diddy. Ein Kautionsgesuch über 50 Millionen Dollar wurde abgelehnt wegen „extremer Gefahr für die Gesellschaft.“

Seit dem 5. Mai wird in Manhattan gegen ihn verhandelt. Gegen Sean John Combs, den Bürger, und seine Inkarnationen als Diddy und Daddy, Love, Swag und wie seine Kunstfiguren auch immer hießen. Die Eröffnungsplädoyers sind, nach der Auswahl der Geschworenen, eine Woche später angesetzt. Acht bis zehn Wochen sind für den Prozess geplant. Alle Versuche, die Verhandlung zu verzögern oder zu verschieben, sind am zuständigen Richter Arun Subramanian gescheitert.

120 Fälle sind es, die eine Anwaltskanzlei aus Texas vorbringt. 120 von 3000, die sich, so die Anwälte, an sie gewandt hätten. Die 120 schwersten Fälle aus den Jahren 1991 bis 2023. Unter ihnen ein zur Tatzeit Neunjähriger, der nach einem Casting von P. Diddy in dessen New Yorker Bad-Boys-Studios missbraucht worden sein soll. Darunter weitere Minderjährige wie eine damals 15-Jährige, die bei einer Party von P. Diddy unter Drogen gesetzt und von ihm und seinen Gästen vergewaltigt worden sein soll. Und darunter eine Schwangere, die nach einem Dinner mit P. Diddy in Miami bei ihm aufgewacht sein soll, betäubt mit Ketamin, missbraucht und vergewaltigt. 60 Frauen und 60 Männer listet die Kanzlei in ihrer Klage auf, darunter 25 zur Zeit der angezeigten Vorfälle Minderjährige.

„Lebensstil des Swingers“

Was in den kommenden Wochen in New York verhandelt wird, geht weit über MeToo hinaus. MeToo hat den Prozess ermöglicht. Ohne die Bewegung und den Hashtag hätte sich die Sängerin Cassandra „Cassie“ Ventura vor zwei Jahren wohl keine Zivilklage gegen P. Diddy zugetraut. Darin warf sie ihm vor, sie über Jahre hinweg systematisch sexuell missbraucht zu haben. Psychische und physische Misshandlungen und Vergewaltigungen, Zwang zum Sex mit männlichen Prostituierten und zu Diddys sogenannten „Freak Offs“, seinen Orgien.

Ein Video zeigte, wie er in einem Hotelflur auf sie einschlug und auf sie, als sie am Boden lag, eintrat. Diddy postete ein Video, um sich zu entschuldigen. Er wurde angeklagt, Cassie Ventura ließ sich auf einen außergerichtlichen Vergleich ein. Aber erst ihr Fall führte zu Razzien in den Anwesen des Rappers und zum Sicherstellen von Beweisen, Waffen, Ketamin-K.o.-Tropfen und Unmengen von Babyöl für, so die Aussagen von Opfern, Diddys „Freak Offs“. Erst Venturas Fall rief die New Yorker Staatsanwaltschaft auf den Plan und zog die strafrechtliche Klage nach sich, den Prozess gegen P. Diddy.

Was auch immer nach acht, zehn oder mehr Wochen, nach dem Urteil des Gerichts und seiner Jury übrig bleiben wird von den monströsen Vorwürfen, MeToo wäre in diesem Fall eine Verharmlosung. Es geht um mehr als um toxisch männliches Fehlverhalten. Darauf setzt schon die Verteidigung: „Es ist relevant für den Vorsatz des Angeklagten, dass es einen Lebensstil gibt, der ‚Swinger‘ genannt wird (oder wie immer man es nennen will), an dem er beteiligt war und den er für angemessen hielt“, erklärte Diddys Anwalt Marc Agnifilo bereits vor Gericht. Eine gesellige, eine Art institutionalisierte und organisierte Promiskuität.

Dann wären auch die Prominenten, deren Anwälte sich zum Prozess in Stellung bringen, Diddys Gäste bei seinen berühmt-berüchtigten „White Partys“, eher Entlastungszeugen als Mitschuldige. Beweisbilder zeigen Jay-Z und Justin Bieber, Prinz Harry und Leonardo DiCaprio und Dutzende bekannte Persönlichkeiten mehr.

Wenn man das alles sieht und liest, stellt sich schon die Systemfrage, die alle stellen. Steht der Fall P. Diddy für den strukturellen Machtmissbrauch und für die sexuelle Ausbeutung im Hip-Hop, im Musikgeschäft und in der Unterhaltungsindustrie? Dafür sprächen durchaus mafiöse Muster in Hip-Hop-Konzernen mit einem gottgleichen Paten über einer Pyramide aus loyalen Untertanen, die ihn schützen, ihm gehorchen und, auch ohne Worte, seinen Willen vollstrecken. Gern auch mit tatsächlichen oder auch nur behaupteten Verbindungen zur kriminellen Halbwelt.

Andererseits ist Hip-Hop eine Popkultur der überlebensgroßen Pose. Wer im Rap eine Musik für minderwertigkeitsgeplagte Männer und von Männern sieht, die sich in Macht-, Gangbang- und Vergewaltigungsfantasien ergehen, Samples klauen und nicht singen können, könnte allzu schnell zum Schluss kommen, der sexuelle Übergriff sei darin angelegt. Was wiederum nicht heißen soll, dass Rapper sich bei allem, was sie anderen gegen deren Willen antun, auf die Kunst und das lyrische Ich berufen dürfen.

Das Musikgeschäft begünstigt alles, was MeToo anprangert – wie es jede Branche, in der Männer, meistens sind es eben Männer, immer ihre Macht ausgeübt und missbraucht haben, zumindest nicht erschwert. Systemisch in der alten Plattenindustrie ist das hierarchische Verhältnis zwischen Produzenten wie P. Diddy und zu Produzierenden, zu denen viele seiner mutmaßlichen Opfer zählen. Und das Groupietum in seiner allerdings weit komplizierteren Asymmetrie, als alle, die es kurzerhand verbieten wollen, glauben mögen. Status war schon immer eine sexuelle Währung und wird immer eine sein, was immer auch der Mensch moralisch davon hält. Genau darin besteht die Strategie der Anwälte, um Diddy zu verteidigen: Mit ihrem „Swinger“-Argument handeln sie das Gericht und das Gesetz auf Fragen der Moral herunter.

Das System aus Mächtigen und Schutzbefohlenen, sexualisiertem Machtgefälle und dem Schweigen der darin verstrickten Mitwisser ist durch MeToo zwar nicht gesprengt aber erschüttert worden. Manches ist dadurch verrutscht und schief. Schon das monströse Ausmaß des Falls Sean „P. Diddy“ Combs, die schiere Zahl der Klagen und die Aussagen der Opfer in den Schriftsätzen, so die übliche Lesart, spreche das System schuldig.

Doch wie auch immer der Prozess ausgeht und inwieweit P. Diddys „Swinger-Lebensstil“ als strafbar eingeschätzt wird: Dieser schwerste Missbrauchsfall der Popgeschichte geht weit über das Systemische hinaus. Es ist nicht das System, sondern der Typ, der Mensch. Laut Anklage ein Mann mit einer ungeheuerlichen kriminellen sexuellen Energie im Machtrausch von geradezu Trumpscher Hybris jenseits der Gesetze und mit einer exklusiven Vorstellung von Einvernehmlichkeit. Das wird verhandelt. Oder, wie der Anwalt Tony Buzzbee, für die Kläger sagt: „Eines der größten Geheimnisse der Unterhaltungsindustrie, dass eigentlich nie ein Geheimnis war.“

Man kann es in den Tagebüchern von Kim Porter, der 2018 unter nie ganz aufgeklärte Umständen verstorbenen Ex-Frau von P. Diddy, nachlesen. Bald wird man es in einer Netflix-Doku, die der Rapper 50 Cent dreht, sehen können. Aber das Geschäft, um das es geht, wird auch nach diesem epischen Prozess kein anderes sein.

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