Es ist süß, wenn einem die Amerikaner Europa erklären. Es sei kein schickes Café an der Rue de Rivoli, behauptet Sadie Smith, Erzählerin von Rachel Kushners neuem Roman „See der Schöpfung“. Auch kein Tässchen heiße Schokolade und keine minzgrünen Baby-Macarons, sondern ein Netz aus Infrastruktur: „Das wahre Europa sind eingeschweißte Paletten mit ultrahocherhitzter Milch, Nesquikpulver oder Halbleitern, Autobahnen und Kernkraftwerke, Lkw-Spuren und ein im Gebüsch hängen gebliebener Slip.“

Okay, wir verstehen schon, die Dame ist mit allen Wassern gewaschen, ein ganz harter Hund. Sie ist, so viel Biografie lässt sich auf knapp 500 Seiten zusammenpuzzeln, 34 Jahre alt und abgebrochene Rhetorik-Doktorandin aus Berkeley. Sie hat, kaum flügge geworden, im Auftrag des FBI finstere Motorradgangs infiltriert. Später stiftete sie einen 18-Jährigen an, Dünger zwecks Bombenbaus zu kaufen. Bei der Übergabe der 250 Kilo Nitrat an eine Tierrechts-Terroristin namens Nancy griff die Polizei zu. Zu Sadies Überraschung musste der Junge nicht ins Gefängnis; die Jury fand, sie habe ihn erst zur Tat bewegt.

Sadie streitet das nicht ab: „Ich hatte ihm zu verstehen gegeben, dass es von mir als Beweis für seine Tauglichkeit als Liebespartner betrachtet werden würde, wenn er diesen Plan durchzog, ja dass ‚direkte Aktion‘ in Form von Sabotage ein entscheidender Schritt in unserem Balztanz sei.“ Ein Balztanz übrigens, der zu nichts führt, außer einem zittrigen Händedruck.

Damit ist der Ton gesetzt. Wir trauen der eiskalten Sadie fortan alles zu, während sie, angeschwipst vom Tankstellen-Rotwein durch den französischen Südwesten gondelt. Sie fahre besser nach ein paar Drinks, sagt sie: „Anstatt zu versuchen, irgendetwas auf dem Telefon zu lesen oder Lippenstift aufzutragen, schaute ich nach mehreren Gläsern dieser regionalen Weine strikt geradeaus und lenkte mit beiden Händen.“ Sie ist unterwegs zum verfallenen Landhaus der Familie eines Mannes, den sie drei Monate zuvor in einer Kneipe nahe der Pariser Place des Vosges aufgegabelt hat, wo sie sich von ihm abwechselnd hat küssen und Victor Hugo mansplainen lassen. Sie plant, sich an eine Kommune heranzupirschen, die im Verdacht steht, den Interessen von Landwirtschaftskonzernen zuwiderlaufende Sabotageakte zu begehen – Bahnleitungen beschädigen, Feuer legen, das Übliche. Landwirtschaftskonzernen übrigens, die sehr wahrscheinlich die privaten Auftraggeber sind, die Sadie nach ihrem Rauswurf beim FBI beschäftigen.

Kopf der Kommune ist ein gewisser Pascal, ein wohlhabender Pariser Ex-Kumpel des Situationisten Guy Debord, der sein Fett ebenso abbekommt, wie der ein oder andere weitere französische Kultur-Prominente, in Form fieser Mini-Porträts, in denen Sadies abgeklärte Scharfzüngigkeit zur Hochform aufläuft. Über Debord heißt es: „Am Ende seines Lebens sieht er wie ein toter Goldfisch aus, der in einer dreckigen Schüssel schwimmt.“ Auch Michel Houellebecq hat ein Cameo, als Michel Thomas, der auf einer Landwirtschaftsmesse (Flaubert lässt grüßen!) für seinen neuen „Agrarroman“ recherchiert – es handelt sich wohl um „Serotonin“, 2019 erschienen, woraus man auf die Zeit schließen kann, zu der die Handlung spielt. Über ihn, dessen Haare wie mit dem Bügeleisen frisiert aussehen und der seine pausenlos weggequalmten Zigaretten zwischen Mittel- und Ringfinger klemmt, heißt es, er habe die „sexuelle Energie einer Großmutter mit Knochendichteproblemen“.

Dann gibt es noch Bruno Lacombe, den über 80-jährigen Spiritus Rector der Gruppe, der in weitschweifigen E-Mails vom Vorbildcharakter der Neandertaler schwadroniert. Verglichen mit seinem edlen, tragischerweise ausgestorbenen Vetter nähmen sich die „Streichholzgliedmaßen“ des Homo sapiens lächerlich aus. Des „Talers“ (Lacombe) bevorzugte Jagdtaktik, Speerwurf auf kurze Distanz, zeige das Heldenhafte seines Wesens. Der Prähistorienbewunderer Bruno hat sich in eine Höhle zurückgezogen, wenngleich offenbar eine mit Wlan-Anschluss. Sadie liest den Schmonzes mit; das Passwort von Brunos E-Mail-Account war leicht zu erraten. Leider kommt immer mehr Neandertaler-Content und nichts Belastbares zum Thema Ökoterrorismus.

Das ist so Kushners Versuchsanordnung, die insgesamt sehr gut gelingt. Zwar rangiert die Undercover-Ermittlerin mit ihrem hübschen Pokerface und hartgekochten L.A.-Noir-Sound gefährlich nah an der Grenze zur Nervensäge, aber letztlich überwiegt der Charme, einen weiblichen, bösen Philip Marlowe an der Seite Houellebeqcs eine Gruppe grüner Kommunarden ausheben zu sehen.

Kushner, inzwischen 56 Jahre alt, unterstreicht mit „See der Schöpfung“ ihren mit „Flammenwerfer“ (2013) und „Ich bin ein Schicksal“ (2018) erhobenen Anspruch, in der ersten Liga der amerikanischen Literatur mitzuspielen. Jede Seite hat ihren Reiz, etwa wenn Sadie über Graffitis sinniert: „Sogar Mord ist nachvollziehbar, wenn man mal darüber nachdenkt. Es ist menschlich, seinen Feind auslöschen zu wollen oder der Welt zu demonstrieren: So wütend bin ich gerade, selbst wenn man später bereut, jemanden umgebracht zu haben. Aber ein unleserliches, schludriges Symbol auf ein Gebäude sprühen? Warum?“

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