Ja, da kann der Führer richtig böse werden, wenn auf der großen Geburtstagstorte – Schwarzwälder Kirsch – nur eine einzige Kerze ist. Dabei ist er doch an diesem 20. April 1945 ganze 56 Jahre alt geworden, und sein letzter Geburtstag ist es auch noch. Hitler tobt. Lustig? Na ja, man hat auch schon besser gelacht als bei „Schicklgruber“ am Deutschen Theater Berlin, das Hitlers letzte Tage im Führerbunker als Puppentheater auf die Bühne bringt. Der völkermordende Diktator als größer Kasper aller Zeiten? Leider trifft der Abend nicht den richtigen Ton und kratzt gefährlich an der Geschmacklosigkeit.
In Führers Puppenkiste herrscht Endzeit- statt Endsiegstimmung. Der Russe und der Amerikaner klopfen an die Tür. Der giggelnde Demagoge Joseph Goebbels liefert sich mit Hermann Göring, dem fetten Schwein, einen Privatkrieg. Und die sichtlich abgewrackte Eva Braun setzt sich über das allgemeine Rauchverbot hinweg. Das schlägt, zudem auch Blondi nicht mehr in der besten Verfassung ist, selbst dem größten Menschheitsverbrecher auf die Stimmung. „Wo ist denn mein großer böser Wolfi?“, versucht Eva Braun seine Lebenskräfte wieder zu wecken. „Wolfi, küss mich!“ Klare Antwort: „Lass mich!“
„Heil, Onkel Hitler!“, kräht eins von Goebbels‘ sechs Nazigören. Und Heinz Linge, Hitlers Kammerdiener, erkundigt sich einfühlsam: „Mein Führer, möchten Sie eine Möhre?“ Ist das die berüchtigte Banalität des Bösen oder fast schon bösartig banal? Mit solchen Unschärfen spielt die groteske Komödie, die Puppenspiellegende Neville Tranter 2003 mit Jan Veldman geschaffen hat und die jetzt von Tranter und seinem genialen Schüler Nikolaus Habjan neuinszeniert und von Habjan gemeinsam mit Manuela Linshalm aufgeführt wurde – mit lebensgroßen, sehr beeindruckenden Klappmaulpuppen.
Was Habjan und Linshalm mit den Puppen machen, ist virtuos. Das kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Stück schlecht gealtert ist. „Schicklgruber“, der Name ist der Geburtsname von Hitlers Vater vor der Umbenennung, kam vor über 20 Jahren auf die Bühne. Ein Jahr bevor der sich in einen Zitterrausch spielende Bruno Ganz Millionen von deutschen Kinobesuchern die „menschliche Seite“ ihres einst geliebten Führers zeigen durfte, die zuvor der „Hitlerversteher“ (so eine deutsche Zeitung anlässlich seines Ruhestands) Guido Knopp im Fernsehen ausschlachtete.
Die Reaktionen blieben nicht aus: Von Walter Moers‘ „Adolf – Der Bonker“ über Dani Levys „Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler“ bis zu Gerhard Polts „Und Äktschn!“ wurde der „Hitler privat im Führerbunker“-Kitsch persifliert und karikiert, dass kein Fitzelchen Schlüssellochvoyeurismus mehr übriggeblieben sein sollte. Nur merkt man „Schicklgruber“ – im Original damals „Schicklgruber alias Adolf Hitler“ – an, dass es vor der „Untergang“-Debatte und den künstlerischen Antworten darauf entstanden ist. So fällt das Stück hinter den Stand der Diskussion zurück.
Man merkt „Schicklgruber“ zudem an, dass es für ein englischsprachiges Publikum gedacht war – und die Übersetzung für ein deutsches Publikum ruckelt. So taucht immer wieder ein großer Todesvogel auf, der mit dem Ausspruch „Bye Bye Birdie“ auf das in den USA populäre und verfilmte, gleichnamige Musical anspielt. Da geht es um einen Popstar, der vor der Einberufung zur Armee steht. Tranter überträgt den Rahmen, nur wird aus Sweet Apple der Führerbunker, aus „One Last Kiss“ die „allerletzte Rede“, die Goebbels von Hitler fordert, und aus der großen Liebe zu Eva Braun am Ende, wie bei dem Helden in der Vorlage, irgendwie doch nichts. Anspielungen, die hier ins Leere laufen oder unpassend wirken. Überhaupt gibt es in der US-amerikanischen Popkultur seit Charlie Chaplins „Der große Diktator“ eine andere Tradition der Nazi-Komödie.
Stellt sich die Frage, warum man dieses Stück gerade heute auf eine große Bühne bringt. Hier weiß der Rezensent wirklich keine Antwort. Weil es für uns heute, wie es im zum Fremdschämen gefühlsduseligen Programmheft heißt, eine moralisch interessante Frage ist, ob man Baby-Hitler töten würde? Weil man in Deutschland noch nie „den Führer privat“ gesehen hat? Weil man auch über Hitler lachen können muss? Muss man denn wirklich – und falls ja, wie? Das Premierenpublikum am Mittwochabend scheinen solche Fragen weniger zu quälen, es spendet stehend und ausdauernd Applaus.
Weil „Schicklgruber“ die Komik nicht zum Erschrecken steigert, fühlt es sich so an, als würde es den Schrecken vergessen. Wie bringt man Hitlers Todesangst mit der Angst der Millionen von Opfern zusammen? Da fehlt eine überzeugende künstlerische Idee. So fällt der Abend auch gegenüber den anderen Arbeiten von Habjan deutlich ab: Wer die schreiend-komische Österreichabrechnung „The Hills Are Alive“, die zutiefst berührende Verfolgungsgeschichte „F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig“ oder auch die kluge Verstrickungsgeschichte „Böhm“ gesehen hat, findet bei „Schicklgruber“ zwar die gleiche handwerkliche Raffinesse, doch nicht die gleiche künstlerische Intensität.
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