Mit der Kunst und der Trauer ist es wie mit der Kunst und der Liebe. Große, ja, größte Gefühle von Glück und Freude drängen ebenso wie Schmerz und Leid zum Ausdruck – und zugleich klafft ein Graben zwischen der Unendlichkeit des Empfindens und der Endlichkeit der Formen, in die das Innerste gegossen wird. Deswegen ist beim Lovesong ebenso wie beim Trauerlied die Kitschgefahr so groß.
Wenn auf Beerdigungen Herbert Grönemeyers „Der Weg“ oder „Tears in Heaven“ von Eric Clapton gespielt werden, mag das manche Trauergäste tief ergreifen, andere dagegen eher peinlich berühren. Die Gefahr ist allerdings nicht auf Popsongs beschränkt, bei Kirchenliedern kann das genauso passieren.
Am 30. Mai, dem Erscheinungstag des neuen Albums von Ben Kweller, wäre sein Sohn 19 Jahre alt geworden. Im Februar vor zwei Jahren starb Dorian „ZEV“ Kweller bei einem Autounfall, als er einem Lkw ausweichen wollte und auf dem Seitenstreifen von einem herunterhängenden Ast getroffen wurde – wenige Wochen bevor der 16-Jährige in den Fußstapfen seines Indie-Vaters seinen ersten eigenen Festival-Auftritt gehabt hätte.
„Cover the Mirrors“ ist keine reine Trauerplatte geworden, oder vielleicht gerade doch, weil es eben nicht in jedem Song um das Andenken an den Sohn geht. Der Albumtitel bezieht sich auf das Trauerritual, die Spiegel im Haus zu verhängen (die Familie ist jüdisch). Doch zugleich ist Selbstbespiegelung ein Hauptmotiv, nicht eitel, sondern als fragender Blick auf das eigene Leben und die Musikerkarriere. Der Verlust stellt alles auf den Prüfstand; und wirft Kweller, der selbst schon als Teenager in Post-Grunge-Zeiten ein Wunderkind-Rockstar war, auf seine eigenen Träume von einst zurück.
Wenn der heute 43-jährige Ben Kweller mit der Liebeskummer-Ballade „Trapped“ einen Song vom nie realisierten Debütalbum ZEVs singt, vermischen sich die Biografien von Vater und Sohn. Der Abschiedsgruß an eine Teenagerliebe, mit der es nicht wirklich passte, wird in doppelter Hinsicht zu einem Farewell, als Hommage und postumes Duett in Gedanken.
Zusammenarbeit als Gegengift
Die lebendige Erinnerung an die nicht nur musikalische Energie seines Sohns scheint ein entscheidender Faktor für die ungebrochene Kraft des Albums zu sein, das stilistisch die verschiedenen Phasen von Kwellers Schaffen streift, von Grunge und Power Pop bis zu den an Adam Green erinnernden Anti-Folk-Balladen aus gemeinsamer New Yorker Zeit nach der Jahrtausendwende. Künstlerisch zieht sich Kweller auch mit Kollaborationen aus der tiefsten Schwärze. „Dollar Store“, geschrieben mit dem Indie-Kollegen Modern Love Child und gemeinsam gesungen mit der wunderbaren Waxahatchee, ist ein Monster-Song, der als Elliott-Smith-artige Indie-Ballade beginnt und schließlich in Power Chords mündet. „Depression“, untermalt von Synthieklängen weich wie Tranquilizer, ist eine Koproduktion mit Coconut Records alias Jason Schwartzman; bei „Killer Bee“ sind die Flaming Lips dabei.
Kwellers Songwriting, das er schon seinem Freund Ed Sheeran zur Verfügung stellte, ragte immer schon heraus: Das Balladenfach beherrscht er ebenso wie beatleske Harmonienschmeichelei oder riffgetriebene Aggressivität. Sein Gesang war stets gleichermaßen unverwechselbar wie von verblüffender Bandbreite – zwischen reiner, knabenhafter Sanftheit und verzerrtem Wut- und Schmerzensschrei.
„Cover the Mirrors“, veröffentlicht auf Kwellers eigenem Label The Noise Company, steht mühelos zwischen Meisterwerken wie „On My Way“ (2004) oder „Circuit Boredom“ (2021). Während der Hörer zwischen Melancholie, Liebesleideleien und Rock-Business-as-usual schon fast erleichtert ist, dass ihn die Trauer nicht ungefiltert erreicht, wirkt ausgerechnet der demohafte Schrammelsong „Park Harvey Fire Drill“ wie ein Schlag in die Magengrube. Im Refrain werden zwei Songs von Kwellers Debütalbum „Sha Sha“ von 2002 zitiert, unter anderem ausgerechnet das liebliche „Family Tree“ mit seinem kinderliedhaften Kehrvers. „And all the Kwellerheads say Sha Sha Sha … La La La Ba-Ba-Ba Ba Ba Ba“. Die „Kwellerheads“, damit sind sonst die treusten Fans gemeint, hier sind es plötzlich die Familienmitglieder, die man sich beim gemeinsamen Singen in ungetrübten Tagen vorstellen kann.
Nachdem schon mit dem schmerzensreichen „Letter to Agony“ der emotionale Tiefpunkt erreicht scheint, erwartet man im Schlussstück „Oh Dorian“ erst recht einen Blick in den Abgrund. Doch folgt ein beinahe fröhlicher Folkrocksong, der nicht mehr die Perspektive des untröstlichen Vaters einnimmt, sondern die des Kumpels, der sich aufs Wiedersehen nach langer Funkstille freut: „Oh Dorian/ Where did you go?/ Oh Dorian/ Please let me know/ Oh Dorian/ My best friend/ I can’t wait to hang with you again“. Verhängt die Spiegel, scheint Kweller zu sagen, aber öffnet irgendwann wieder die Fenster und Türen und lasst das Licht herein.
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