Schon eine der ersten Szenen vereint Wahnsinn und Fremdscham so virtuos, wie es nur Lena Dunham kann: Jessica schlägt mit einem Gartenzwerg das Fenster ihrer alten Wohnung ein, in der ihr Ex-Freund mit seiner neuen Freundin im Bett schläft. Sie stürmt ins Schlafzimmer und schreit beide wach: „Mich zu verlassen, ist das Schlimmste, das je irgendjemand getan hat.“
Damit wären wir auch schon im Universum egozentrierter Frauen der Lena Dunham. Weitere Markenzeichen sind: eine überbordende Familie, unbeholfene Lust, Körperekel, psychische Probleme, Zwangshandlungen und ein Humor, der auf Oversharing basiert. Von all dem ist „Too Much“ durchzogen, das jetzt in zehn Folgen auf Netflix zu sehen ist. Besonders nah an der Macherin ist diese Liebesgeschichte auch deshalb, weil sie von ihrer eigenen inspiriert wurde. Sie erzählt lose davon, wie Dunham ihren Partner im echten Leben kennenlernte, den britischen Musiker Luis Faber.
Dreizehn Jahre ist es her, dass die Serie „Girls“ der Amerikanerin einen Karriere- und der Welt einen kulturellen Durchbruch verschaffte. So wie hier wurden die Leben von Frauen bis dahin nicht erzählt. Das fängt schon mit dem Alter der Anfang zwanzigjährigen Hauptfiguren an, die in einer Findungsphase stecken: Was für einen Job will ich machen? Bleibe ich mit meinem Schulfreund zusammen? Zuvor wurden Frauenbiografien entweder von Mitdreißigern wie in „Sex and the City“, Spätzwanzigern wie in „Friends“ oder den „Golden Girls“ erzählt. Überraschend war zudem, dass die vier Frauen in „Girls“ nicht unbedingt sympathisch wirkten. Sie waren nicht mal besonders gute Freundinnen, sondern meist nur auf sich selbst bedacht. Dazu kam der ganze komische Sex, der nie wirklich erotisch und dafür immer merkwürdig war. Dunham leuchtete in der Serie alle Ecken von Scham und Ekel aus, sowie weibliches Gefallenwollen und die unbeholfenen Momente, die daraus entstehen. Dafür wurde sie als feministische Ikone gefeiert.
Wärmer als „Girls“
Im Jahr 2025 muss man daran erinnern, dass diese Themen in der prä-durchtherapierten Gesellschaft der Zehnerjahre neu waren. Die Serie hat vielleicht sogar den Weg geebnet für all die TikToks über toxisches Verhalten und peinliche Sexgeschichten, die heute gang und gäbe sind. Schauspielerisch bewies Dunham dann später, dass sie mehr kann als die Leben kaputter Großstadt-Millennials zu erzählen. Im Film „Treasure“ spielt sie eine jüdische Frau, die zusammen mit ihrem Vater in Polen den Wurzeln ihrer Familie nachspürt. Auch hier ringt eine Frau mit ihrer Psyche und ihrem Körper.
In „Too Much“ kommen viele dieser Motive zusammen. Nach dem nächtlichen Einbruch zieht Jessica (Megan Stalter) für einen Job nach London. Dort erhofft sie sich eine Liebe wie in „Stolz und Vorurteil“ oder „Bridget Jones“, ein Leben in Herrenhäusern und mit Afternoon-Teas. Doch das reale London sieht dann anders aus. Ihre kleine Unterkunft ist Teil einer Sozialsiedlung mit dünnen Wänden und Nachbarn, die sich allabendlich als „Cunt“ beschimpfen. Ihre Kollegen sind Karikaturen von woken Großstädtern, die um sich selbst und ihre Sexualität kreisen. Jessicas einzige Vertraute ist ihr Hund Astrid, der aussieht wie ein unterdurchschnittlich attraktiver Nacktmull. Zwanghaft dreht sie Videobotschaften an die Verlobte ihres Ex-Freundes, in denen sie ihre Gefühle festhält. Gleich an ihrem ersten Abend im Pub lernt sie dann den Musiker Felix (Will Sharpe) kennen. Beide verlieben sich, doch das macht es nicht einfacher. Dunham selbst spielt die Rolle von Jessicas depressiver Schwester.
Die Atmosphäre unterscheidet sich deutlich von „Girls“. Was daran liegen wird, dass die Produzenten von „Tatsächlich Liebe“ und „Notting Hill“ an der Serie mitgewirkt haben. Die Welt hier ist weniger roh, weniger kalt und wird durch eine Rom-Com-Linse in buntere Farben getaucht. Auch England liebende BookToker-Teenies sollen sich hier wohlfühlen. Selbst die weit flatternden Hemdkleider von Jessica erinnern entfernt an die Nachthemden viktorianischer Damen. In einem Video an Wendy (Emily Ratajkowski), die Neue vom Ex, das Jessica mit Kerze in der Hand aufnimmt, setzt sie eines dieser Kleider in Flammen. Sie erleidet nicht nur eine Brandwunde, sondern auch eine Panikattacke. Dunham lässt Seelenschmerz immer auch am Körper aus.
Irgendwo dazwischen
„Too Much“ erzählt von Selbst-Sabotage und Machtkämpfen in Beziehungen. Dabei gelingt es Dunham, ein Dilemma feministischer Diskurse auf den Punkt zu bringen: Ihre weiblichen Figuren zeigen mal berechtigte Wut, missbrauchen sie aber an anderer Stelle, um eigenes Fehlverhalten zu entschuldigen. So wirft Jessica ihrem neuen Freund etwa vor, ein Bündel an „Red Flags“ zu sein, nachdem sie sich zuvor auf einer Party danebenbenommen hatte. „Manchmal fühlt es sich an, als würdest du mit einer Person streiten, die gar nicht hier ist“, entgegnet Felix dann auch passend. Am Ende nehmen sich die beiden nicht viel, wenn es darum geht, mit vergangenen Verletzungen die neue Beziehung zu torpedieren. Eigentlich dreht sich alles um Liebe, im Kern ist Dunham eine Romantikerin.
Ihr Ruf als feministisches Vorbild der Millennials war es wohl auch, der Emily Ratajkowski auf den Plan gebracht hat. Das Model hat vor ein paar Jahren ein Buch über Machtmissbrauch geschrieben, in dem sie ihre Schönheit als Segen und Fluch betrachtet und vom Mitmachen erzählt, obwohl man nicht will. Ratajkowski mag schon länger Fan der Serienschöpferin gewesen sein und spielt ihre Rolle als häkelnde Influencer-Antagonistin überzeugend. Überhaupt hält die Serie zahlreiche Gastauftritte von Hochkarätern bereit. Die schönste Überraschung ist wohl Andrew Scott. Der spielt seine Rolle als selbstverliebter und unsicherer Schauspiel-Egomane mal wieder so brillant, dass man Phoebe Waller-Bridge permanent die Füße küssen möchte, ihn mit „Fleabag“ berühmt gemacht zu haben.
Der Titel „Too Much“ bedeutet im britischen und amerikanischen Englisch zwei verschiedene Dinge. In den USA ist die Konnotation eher negativ. Wer zu laut, irgendwie nervig und unangenehm extrovertiert ist – meist wird es Frauen zugeschrieben –, gilt als „too much“, zu viel eben. Im britischen Englisch heißt es hingegen, dass jemand besonders lustig und unterhaltsam ist. Oder wie es Felix in der Serie beschreibt: „Gerade richtig und dann noch ein bisschen mehr“. Dunhams neues Projekt liegt, wie so vieles ihrer Kunst, im Bereich des Irgendwo-Dazwischen.
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