Die heftigsten Böen sind zwar überstanden, doch der Sturm ist noch nicht vollständig an Wolodymyr Selenskyj vorübergezogen. Auch am Donnerstagabend, dem dritten Protesttag in Folge, versammelten sich in Kiew erneut Tausende Demonstranten vor dem Amtssitz des Präsidenten. Unter ihnen viele junge Studentinnen – aber auch vereinzelt Soldaten in Uniform.
Es waren deutlich weniger Menschen als am Vorabend, doch ihre Forderung blieb dieselbe: „Stoppt das Gesetz!“, riefen sie. Und: „Wozu brauche ich ein System, das gegen mich arbeitet?“
Erstmals seit Russlands Invasion 2022 ist die ukrainische Regierung innenpolitisch derart unter Druck. Der Vorwurf: Selenskyjs innerster Zirkel würde seine Macht auf Grundlage des Kriegsrechts ausbauen und seit Monaten unabhängige Institutionen zerschlagen. Diese Restriktionen gefährdeten auch einen möglichen EU-Beitritt.
Auslöser des landesweiten Protests war in der vergangenen Woche ein neues Gesetz zur Entmachtung des staatlichen Antikorruptionsbüros NABU und der damit verbundenen Staatsanwaltschaft SAPO. Gesetz Nr. 12414 gesteht der Regierung deutlich mehr Einfluss auf Korruptionsermittlungen zu.
Selenskyj begründete das Vorgehen mit dem Argument, dass es Hinweise auf russische Einflussnahme in den Behörden gebe. Trotz des Aufschreis – von Lwiw über Odessa bis nach Kiew – hielt der Präsident zunächst an dem Gesetz fest. Erst, als die Proteste größer wurden, als sich auch europäische Staatschefs wie Bundeskanzler Friedrich Merz und der britische Premier Keir Starmer telefonisch meldeten, lenkte Selenskyj am Donnerstag öffentlich ein. Er habe im Parlament einen neuen Gesetzentwurf eingebracht, der „umfassende Garantien für die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden“ beinhalte. Die betroffenen Behörden NABU und SAPO stimmten dem Entwurf zu – forderten jedoch eine schnelle Umsetzung in den kommenden Tagen.
Putins Armee rückt weiter vor
Die ersten größeren innerukrainischen Proteste seit Russlands Invasion fallen in eine Zeit, in der Wladimir Putins Armee kontinuierlich vorrückt. Allein im Juni haben russische Truppen rund 550 Quadratkilometer Territorium erobert. Zur Einordnung: Köln hat etwa eine Fläche von 400 Quadratkilometern.
Trotz aller Probleme – zum Beispiel bei der Mobilisierung neuer Soldaten – ist die Einheit im Land bis heute ein zentraler Grund für den ungebrochenen ukrainischen Widerstand. Selenskyj weiß, dass eine zweite Front im eigenen Land diesen Zusammenhalt gefährdet.
Die Reaktionen aus den Reihen der ukrainischen Armee haben den Druck erhöht. „Die meisten von uns unterstützen die Straßenproteste“, sagt Roman Greschuk, der als Artillerieoffizier in der Region Cherson dient. Denn eine zu starke Machtkonzentration könnte die Ukraine zu einer „Autokratie im Stile Russlands“ verwandeln.
Daria Kaleniuk formuliert es im Gespräch mit WELT AM SONNTAG noch etwas drastischer. Die Entwicklung hin zu einer Autokratie sei bereits seit Monaten im Gange, sagt sie, „und zwar in atemberaubender Geschwindigkeit.“ Die prominente Korruptionsjägerin hat 2012 das nicht-staatliche Anti-Corruption Action Center (AntAC) gegründet, das sie bis heute leitet.
In einem Café in Kiew beschreibt die Aktivistin den Regierungswechsel in den USA im Januar 2025 als Wendepunkt. „Jahrelang waren die USA ein zentraler Akteur beim Schutz und der Durchsetzung von Reformen in der Ukraine – angefangen bei der US-Botschaft hier in Kiew bis hoch zum Präsidenten. Als die Biden-Regierung abtrat, hat leider weder die EU noch jemand anderes diese Rolle übernommen.“
Unmittelbar nach dem Machtwechsel in Washington habe es erste restriktive Eingriffe durch die ukrainische Regierung gegeben. Zunächst sei die Agentur für Rüstungsbeschaffung, kurz DPA, ins Visier geraten. Die zuvor unabhängige Behörde, zuständig für die Waffenbeschaffung, sei quasi „zerschlagen“ worden, sagt Kaleniuk. Konkret wurde der Vertrag der damaligen Direktorin trotz Zustimmung des Aufsichtsrats nicht verlängert.
Im Juli schließlich habe das ukrainische Kabinett sich geweigert, „das Gesetz zu befolgen und Oleksandr Tsyvinsky als Leiter des Economic Security Bureau zu ernennen“. Laut Kaleniuk war dieser zuvor durch ein unabhängiges Auswahlverfahren bestimmt worden. Parallel war es im Juli – in den Wochen vor den Protesten – zu Dutzenden Razzien gegen Aktivisten und Korruptionsbekämpfer gekommen.
Der Geheimdienst SBU rechtfertigte die Durchsuchungen mit dem Vorwurf, einige NABU-Ermittler hätten Fluchthilfe für Ukrainer geleistet. Ein Mitarbeiter soll sogar für den russischen Geheimdienst gearbeitet haben.
Kaleniuk hält den Großteil dieser Anschuldigungen für „konstruiert“ – auch die gegen ihren Mitstreiter Vitalij Schabunin, Mitgründer des AntAC. Auch bei ihm gab es Durchsuchungen, seine Handys wurden beschlagnahmt. „Vitalij kritisiert Selenskyj und alle Spitzenpolitiker offen. Und genau deshalb wollen sie ihn mundtot machen. Sie wollen ihn diskreditieren – mit diesen Razzien, mit der Repression“, sagt Kaleniuk. Die Korruptionsjägerin befürchtet, selbst eine der Nächsten zu sein, gegen die der Staat vorgeht.
Ibrahim Naber ist seit 2022 WELT-Chefreporter. Er berichtet regelmäßig von der Front in der Ukraine sowie aus anderen Kriegs- und Krisengebieten.
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