Am Montag dieser Woche steht Ulrich Siegmund im Festsaal des Hamburger Rathauses. „Ich lade das später bei TikTok hoch“, sagt der sachsen-anhaltische AfD-Fraktionschef, nimmt sein Handy und erklärt seinen Anhängern, wie sie in seinem nächsten Videoclip mitwirken können. „Ich sage jetzt ganz kurz: Ist Deutschland überall zu retten?“, kündigt er an. „Und dann machen wir gemeinsam den Alarm unseres Lebens, damit die Deutschen überall sehen, dass jeder Winkel zu retten ist.“

Mehr als 500 Menschen sind gekommen, um mitten in den Sommerferien die Rede eines Landespolitikers aus einem anderen Bundesland zu erleben. In den sozialen Medien ist Siegmund ein Star, auf TikTok ist er mit mehr als 560.000 Followern nach der Linke-Spitzenpolitikerin Heidi Reichinnek der erfolgreichste Politiker Deutschlands. Vor allem junge Leute erreicht er auf dem Portal.

Das Publikum in Hamburg ist allerdings Jahrzehnte älter als der typische TikTok-Nutzer. Und trotzdem ist der Saal um ein Vielfaches voller als bei den Veranstaltungen der anderen Parteien in den Tagen zuvor. Das ist erstaunlich, schließlich hat die AfD in der Hansestadt einen schweren Stand. Gerade einmal 7,5 Prozent der Wähler stimmten bei der Bürgerschaftswahl im März für die Rechtsaußen-Partei. Als im Januar 2024 bekannt wurde, dass AfD-Politiker mit dem Rechtsextremisten Martin Sellner über einen „Masterplan“ zur „Remigration“ sprachen, demonstrierten in Hamburg rund 100.000 Menschen.

Beim Treffen mit Sellner war auch Ulrich Siegmund dabei, das thematisiert er bei seinem Auftritt im Rathaus. Von einer „Potsdamer Kaffeerunde“ spricht er beschwichtigend. Die AfD und ihr Vorfeld seien damals vorbildlich mit den Vorwürfen von Medien und politischen Gegnern umgegangen. Er erinnert an einen Ausspruch des Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland: „Wenn die Granaten einschlagen, dann steht man zusammen.“

Den Kontext, in dem Gauland das sagte, nennt Siegmund nicht: 2017 war das, der Thüringer Landeschef Björn Höcke hatte gerade seine berühmt gewordene „Dresdner Rede“ gehalten, in der er das Berliner Holocaust-Mahnmal zum „Denkmal der Schande“ umgetauft und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert hatte. Und Gauland ging mit dem Spruch auf Distanz zur damaligen Parteichefin Frauke Petry, die für ein Ausschlussverfahren gegen Höcke geworben hatte.

So deutlichen Widerspruch gegen Rechtsextremismus gibt es in der AfD längst nicht mehr. Die besonders Radikalen haben die Parole ausgegeben: „Wer sich distanziert, verliert.“ Zu dieser Gruppe zählt auch Siegmund.

Trotzdem könnte der 34-Jährige im kommenden Jahr der erste Ministerpräsident der AfD werden. Am 6. September 2026 wird gewählt – und die AfD steht in Umfragen bislang bei um die 30 Prozent, in Tuchfühlung zur CDU. Diese wurden allerdings durchgeführt vor der Ankündigung des populären Ministerpräsidenten Reiner Haseloff, nicht mehr anzutreten. Der Christdemokrat überlässt nun die Kandidatur dem bislang unbekannten Landeswirtschaftsminister Sven Schulze.

Als Menetekel für die CDU könnte sich indes das Ergebnis der Bundestagswahl erweisen: Ganze 37 Prozent der Wähler in Sachsen-Anhalt stimmten im Februar für die AfD – fast doppelt so viel wie für die CDU. Noch im Juni meinte Haseloff: „Wenn die AfD zur Macht käme, dann wäre für mich wirklich die Grundsatzüberlegung, ob ich nach 72 Jahren meine Heimat verlassen würde.“

Das Ziel des AfD-Spitzenmanns Siegmund ist die Alleinregierung. Sollten etwa Grüne und FDP am Einzug in den Landtag scheitern, dem Bundestagswahlergebnis entsprechend, könnte dies schon ab etwa 42 Prozent möglich sein. Koalitionsfähig zu werden, will er gar nicht erst versuchen. „Ich habe kein Interesse, mit jemandem Politik zu machen, der dieses Land sehendes Auges gegen die Wand gefahren hat“, sagt er in Hamburg. „Ehrlich und ernst“ meine es aktuell außer der AfD niemand, behauptet der Politiker, der in Tangermünde in der Altmark lebt. „Deshalb sehe ich keine Möglichkeit, mit irgendjemandem zusammenzuarbeiten.“

Ab dem ersten Tag seiner Regierung, verspricht er, werde er die Bürger von der „Rundfunkzwangsabgabe“ befreien. Und für Menschen, „die unser Werteverständnis mit Füßen treten“, werde der Geldhahn abgedreht. Das werde „die größte Abschiebeoffensive, die dieses Land je gesehen hat“, ruft er und bringt den Saal zum Jubeln.

Die Anti-Bauhaus-Attacke der AfD

Das Landesamt für Verfassungsschutz hat die sachsen-anhaltische AfD als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ eingestuft. Die Programmatik sei „wesentlich von der rassistischen Ideologie des Ethnopluralismus durchdrungen“, heißt es dort. Zentral sei hierbei das Idealbild ethnisch weitestgehend homogener Staaten. Die AfD stilisiere Migranten „allein aufgrund der ihnen zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeit zu einer existenziellen Gefahr“, steht im Bericht der Verfassungsschützer für 2024.

Besonders häufig nennen sie den Landes-Vizechef Hans-Thomas Tillschneider. Im Landtag ist der 47-Jährige unter anderem für Kulturpolitik zuständig – und sorgt dort zuweilen mit Anträgen im Landtag für bundesweite Aufmerksamkeit. Zum Beispiel Ende des vergangenen Jahres, als in einem Antrag die weltberühmte Kunstschule Bauhaus, deren 100-jähriges Jubiläum gerade gefeiert wurde, als „Irrweg der Moderne“ attackiert wurde. Die Empörung war groß. Die AfD zeige durch die Formulierung „die Fratze des Nationalsozialismus“, sagte etwa der FDP-Fraktionschef Andreas Silbersack.

Hinter der Bauhaus-Bewegung hätten „politische und gesellschaftliche Ideologien“ gestanden, die „insbesondere während der Leitung von Hannes Meyer eine klare Nähe zum Kommunismus aufwiesen“, heißt es in dem Antrag etwa mit Bezug auf den Direktor des Bauhauses Dessau zwischen 1928 und 1930.

Den Historiker Jens-Christian Wagner, Stiftungsdirektor der Gedenkstätte Buchenwald, erinnert dies an die antimoderne Kritik völkischer Kreise der 1920er-Jahre sowie der Nationalsozialisten, die Dessau als „rote Kaderschmiede“ beschimpften. „Hannes Meyer war ein antistalinistischer Linker und ein Opfer des Stalinismus“, sagt Wagner. Im Übrigen sei in dem Antrag der NS-belastete Begriff Lebensraum „bewusst gesetzt“ worden.

Für „völlig abwegig“ hält dies AfD-Politiker Tillschneider. „Wir stehen heute, 100 Jahre später, in einer ganz anderen historischen Situation“, sagte er WELT AM SONNTAG. „Wir haben uns gegen das politische Paradigma ‚Bauhaus‘ gewandt und dass die Landesregierung damit Politik macht.“

Im Mai hatte der Vize-Chef der Sachsen-Anhalt-AfD nachgelegt. Die Landeskampagne „#moderndenken“ solle durch die Kampagne „#deutschdenken“ ersetzt werde, beantragte er im Namen seiner Fraktion. Dafür brauche es etwa eine „Straße des Deutschen Reichs“. Und: In den Schulen seien „anstelle der sogenannten Gedenkstättenfahrten“ Exkursionen zu historischen Stätten durchzuführen. Es brauche einen „unbelasteten Umgang mit der deutschen Geschichte“, ohne „Verkrampfungen und Hemmungen“.

Jens-Christian Wagner, Lehrstuhlinhaber an der Universität Jena, hat hierzu eine klare Position. „Die NS-Verbrechen verbieten es, stolz auf die deutsche Geschichte zu sein“. Tillschneider weist auch dies zurück: „Sollen wegen Auschwitz alle Deutschen auf alle Ewigkeit in Sack und Asche gehen?“, sagte er. Der Holocaust sei „zweifelsohne ein gigantisches Verbrechen“ gewesen. „Aber es kann doch nicht sein, dass er alle deutsche Geschichte davor und danach annulliert.“

Zurück im Hamburger Rathaus, wo sich der Star der Rechtsaußenpartei eine lange Schlange von Anhängern mit Selfie-Wünschen bildet. Ulrich Siegmund hört sich alles an, dankt und lächelt in jede Kamera. „Wir haben alle das gleiche Ziel.“ Der Abend endet mit einer Parole, die Gemeinschaft beschwört, alle außerhalb gleichzeitig ausgrenzt und das Machtstreben zusammenfasst: „Wir holen uns unser Land zurück!“

Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Im September erscheint im Herder-Verlag sein Buch über den AfD-Politiker Björn Höcke. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.

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