Grünen-Co-Chefin Franziska Brantner nimmt Platz auf einem politischen Minenfeld: Die linke israelische Tageszeitung „Haaretz“ hat sie eingeladen zu einer Nahost-Diskussion in Berlin. Wenige Minuten vor ihr hatte auf derselben Bühne der israelische Menschenrechtsaktivist und Autor Michael Sfard gesprochen – über ein „Unterdrückerregime“ in Israel, über israelische Gefängnisse als „Foltereinrichtungen“ und „Apartheid“ in Israel, die enden müsse. Jubel im Saal des Hauses der Berliner Festspiele.
Anders als sonst, wenn solche Begriffe auf deutschen Bühnen fallen, geht es hier auch um die Opfer des Hamas-Massakers vom 7. Oktober oder die Sicherheit von Juden in Deutschland. Auch für Mahnungen dieser Art applaudieren die Zuschauer. Sie sind israelische Regierungskritiker, deutsche Menschenrechtsaktivisten, Thinktanker. In Deutschland sind sie zusammengekommen, weil viele hier eine Forderung haben an die Bundesrepublik – wegen deren „besonderen Beziehung“ zu Israel, wie es hier immer heißt. Diese solle Deutschland nutzen, um zu vermitteln zwischen Israelis und Palästinensern, um sich für Frieden bis hin zu einem palästinensischen Staat einzusetzen, um den rechtsextremen Teil der israelischen Regierung zu sanktionieren und die Zivilgesellschaft zu stärken.
Deutschland hat aber nicht nur eine „special relationship“ zu Israel. Viele Personen, die im ehemaligen Britischen Mandatsgebiet Palästina Wurzeln haben, leben hier. Eine genaue Zahl zu der Personengruppe gibt es nicht, Schätzungen gehen von rund 200.000 Menschen aus. Auch Vertreter aus dem deutsch-palästensischen Lager sprechen auf der Konferenz, die neben der linken israelischen Zeitung „Haaretz“ die grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung veranstaltet. Partner sind auch die Stiftung der „taz“, Campact, das Goethe-Institut oder „Brot für die Welt“.
Das grünennahe Milieu will oft beides: Verantwortungsgefühl für deutsche Juden und Israel, aber auch Empathie mit der palästinensischen Bevölkerung – im Westjordanland wie in Berlin. Das auszutarieren wird auch ein Thema des Grünen-Parteitag Ende November in Hannover sein.
Die Hilflosigkeit der Parteilinken
Wie hilflos Parteilinke zuweilen agieren, wenn es um dieses Austarieren geht, zeigt ein Beschluss des linksgerichteten Berliner Verbands vom Oktober: „Neben Tel Aviv sollte auch Ramallah eine Städtepartnerschaft angeboten werden“, so eine Forderung.
Den „Genozid“-Vorwurf erheben Parteilinke – meistens – eher verschämt. „Internationale Institutionen, Wissenschaftler:innen und israelische Menschenrechtsorganisationen bezeichnen diese Kriegführung als Genozid“, heißt es in einem Parteitagsantrag über Israels Kriegsführung im Gaza-Streifen. Zwei Millionen Einwohner leben in dem Gebiet, schätzungsweise über 70.000 Menschen sollen im Gaza-Krieg gestorben sein. Ein anderer Antrag zeichnet Israel in linksextremer Rhetorik als gegründet auf rassistischem Kolonialismus, der heute in „systematische“ Kriegsverbrechen „bis hin zum Genozid“ münde.
Die Sprache weiter Teile der Partei ist das nicht, schon gar nicht die der Parteispitze. Die Ober-Realo-Frau Brantner zum Beispiel kennt Israel, hat in Tel Aviv gelebt und spricht Hebräisch. Auf Aufforderung zeigt sie das auch auf dem Panel auf der Haaretz-Konferenz, kurz nachdem sie Platz nimmt.
Dort soll sie einige Fragen auf Englisch beantworten unter der Überschrift: „Eine ‚besondere Beziehung‘ unter Druck: Gaza, Israel und Deutschland – wie geht es weiter?“ Neben Brantner sitzen vier Aktivisten. Die Moderatorin, Haaretz-Journalistin Judy Maltz, erweckt den Eindruck, als würde sie Brantner rhetorisch gerne in Richtung des linken Parteirands locken.
„Deutschland wird oft dafür kritisiert, Israel aufgrund seiner sogenannten historischen Verantwortung gegenüber dem jüdischen Staat mit Samthandschuhen anzufassen. Sie persönlich haben jedoch während des Krieges ein Waffenembargo gegen Israel sowie einen Boykott rechtsextremer Politiker aus Israel gefordert“, leitet Maltz mit einem Lob ihre erste Frage an Brantner ein: „Wie“, glaube Brantner, die an der Ampel als Staatssekretärin beteiligt war, „hätte die deutsche Regierung Ihrer Meinung nach auf den Angriff vom 7. Oktober und die verheerenden Vergeltungsmaßnahmen Israels im Gaza-Streifen reagieren sollen?“
„Die deutsche Debatte verlief schlecht“
Brantner aber steigt nicht auf die hier so scharf geäußerte „Israelkritik“ ein. Sie sagt: „Was mich in gewisser Weise am meisten wütend gemacht hat, ist, dass Deutschland es nicht zugelassen hat, dass sich eine starke gemeinsame europäische Stimme erhebt. Denn ich denke, es wäre wichtig gewesen, einen europäischen Akteur in der Region zu haben und sie nicht den Trumps dieser Welt zu überlassen.“
Sie verstehe aber „vollkommen, warum die deutsche Regierung einen Vorschlag der Europäischen Kommission nicht unterstützt“. Was sie meinen könnte, ohne es konkret zu benennen: Im September hat die EU-Kommission umfangreiche Sanktionen gegen Israel wegen dessen Kriegsführung im Gaza-Streifen vorgeschlagen. Deutschland aber macht nicht mit. Brantner ist aber der Meinung, Deutschland sollte in der EU nicht nur „Nein“ sagen, sondern eigene Gestaltungsvorschläge machen.
„Und was die interne Debatte angeht“, fährt Brantner fort, „denke ich, dass es schwierig war, dass wir das Leiden der Palästinenser nicht wirklich ausreichend wahrgenommen haben. Die deutsche Debatte verlief so schlecht, dass wir nun letztendlich Juden haben, die in Berlin und ganz Deutschland leben und heute weniger sicher sind als vor dem 7. Oktober, aufgrund des Antisemitismus, der wirklich zugenommen hat.“
„Und auf der anderen Seite“, sagt Brantner, „stehen die Palästinenser und ihre Angehörigen, die sich in der deutschen Debatte nicht einbezogen fühlen. Nach der zweijährigen deutschen Debatte ist also keine Seite sicherer oder besser dran.“ Offenkundig seit etwas falschgemacht worden.
Die Moderatorin wendet sich dann einem Deutsch-Palästinenser zu, der über „anti-palästinensischen Rassismus“ spricht; dann an eine Deutsch-Jüdin aus dem progressiven Lager, die sagt: „Die unverhohlen entmenschlichende, ja sogar völkermörderische Rhetorik von Teilen der israelischen Führung veranlasst meiner Meinung nach viele Menschen zu der Frage, was es in Zeiten wie diesen eigentlich bedeutet, pro-israelisch zu sein.“ Brantner nickt.
„Franziska, zurück zu Ihnen“, sagt die Moderatorin Maltz dann etwas später. „Wir haben zuvor darüber gesprochen, dass die deutsche Regierung oft so tut, als sei ihr in Bezug auf Israel die Hände gebunden. Glauben Sie, dass die allgemeine Zurückhaltung Deutschlands, seinen Einfluss zur Mäßigung der israelischen Regierung zu nutzen, sein internationales Ansehen beeinträchtigt hat?“
Brantner antwortet zunächst auf die Frage nach dem deutschen Ansehensverlust: „Offenkundig.“ Als sie für die Bundesregierung in der Welt unterwegs war, damals vor allem in Sachen Rohstoffbeschaffung, sei es „schwieriger“ gewesen, „Termine zu bekommen.“ Oft sei die erste Frage von Gesprächspartnern die nach der deutschen Politik in Nahost gewesen.
„Besondere Beziehung zu Israel“
Sie betont dazu mehrfach: „Wir haben eine besondere Beziehung zu Israel, und das sollten wir auch“, dafür gebe es gewichtige Gründe. Eine Frage aber, die Brantner sich unter Bezugnahme auf den israelischen Ex-Premier Ehud Olmert – ebenfalls Konferenzgast – sinngemäß stellt dazu, lautet: Mit welcher Art von Israel wird Deutschland in Zukunft diese besondere Beziehung haben?
Die Frage von Maltz nach „Mäßigung“ der israelischen Regierung scheint sie somit zunächst als auf das Agieren der Regierung Benjamin Netanjahus innerhalb des Landes bezogen verstanden zu haben. Im Beschreibungstext der Konferenz ist die Rede von einem „Angriff“ dieser Regierung auf die israelische Demokratie. Auch in den Redebeiträgen geht es häufiger darum.
Branter fragt sich: „Wird Israel in der Lage sein, ein demokratischer Staat zu bleiben? Und deshalb müssen wir, wenn wir ehrlich sind in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte, auch gemeinsam mit der Zivilgesellschaft in Israel kämpfen, die für Demokratie und Menschenrechte einsteht“, sagt die Grünen-Chefin. Manchmal denke sie, „dass Deutschland an Glaubwürdigkeit verliert, wenn wir uns in vielen Regionen der Welt für Menschenrechte und Demokratie einsetzen, das aber in dieser Region nicht tun“. „Massiv“ an Glaubwürdigkeit in der Welt habe Deutschland aber auch deswegen verloren, weil es den Eindruck erwecke, sich nicht ausreichend für Israelis und Palästinenser einzusetzen, fügt Brantner an.
Sie sagt auch: Sie werde niemals aufgeben, die Situation in Israel in aller Komplexität zu betrachten, niemals in „Schwarz-Weiß“-Denken abdriften. Ein Mann ruft dazu rein, gegen Brantner gerichtet: „Menschenrechte sind keine komplexe Frage!“ Er meint wohl: Israel müsse man einfach verurteilen für sein Vorgehen.
Brantner erwidert: Doch, natürlich sei die Gemengelage komplex, und: Die Hamas habe „horrendous“ – man könnte übersetzen „schreckliche“ – Verbrechen begangen. „Und Israel hat das Recht, sich gegen diese schrecklichen Verbrechen zu verteidigen!“, sagt Brantner mit Nachdruck. Dafür erntet sie Applaus – manche aber scheinen die Grünen-Chefin auch auszupfeifen für diese Aussage.
Sie setzt nach: „Aber das gibt Israel nicht das Recht, selbst schreckliche Verbrechen zu begehen.“ Auch hier: Applaus. Brantner schließt: „Oftmals gelingt es uns in Deutschland nicht, diese Debatte auf gute Weise zu führen.“
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