Bei der Militärparade zum 80. Jahrestag des Sieges über Japan am 3. September in Peking präsentierte China erstmals öffentlich eine Interkontinentalrakete. Für die Bevölkerung war es eine Zurschaustellung militärischer Stärke. Fachleute in Washington, Tokio und Berlin verfolgten den Auftritt dagegen mit analytischem Blick. Sie sahen darin nicht nur eine Machtdemonstration, sondern auch den beschleunigten Ausbau der nuklearen Abschreckung Chinas.

Kurz vor dem Treffen zwischen Xi Jinping und Donald Trump in Südkorea am vergangenen Donnerstag hatte der US-Präsident behauptet, China führe heimlich Atomtests durch. Damit hatte er gerechtfertigt, auch in den USA wieder mit atomaren Tests beginnen zu wollen. Dass ein US-Präsident erstmals seit Ende des Kalten Krieges offen über eine Rückkehr zu nuklearen Tests spricht, markiert einen Tabubruch – und unterstreicht, wie sehr das Vertrauen zwischen den Großmächten erodiert.

Auch nach dem Gipfel wiederholte er den Vorwurf im US-Fernsehen: „China testet, aber sie sprechen nicht darüber.“ Öffentliche Belege legte er nicht vor, internationale Überwachungssysteme registrierten keinerlei Explosionen. „Washington hegt den Verdacht, China könnte sehr kleine, superkritische Tests durchführen“, sagt Tong Zhao, Senior Fellow im Nuclear Policy Program bei Carnegie China gegenüber WELT. „Aber die vorsichtige Wortwahl zeigt, dass bislang keine eindeutigen Beweise existieren.“

Trumps Verdacht speist sich aus der strikten Geheimhaltung des chinesischen Atomprogramms und dem schnellen Anwachsen des chinesischen Arsenals. Außerdem wird das Testgeländes Lop Nur immer weiter ausgebaut, Chinas zentrales Atomtestareal in Xinjiang.

Nach außen präsentiert sich Peking regeltreu. Der letzte offiziell bestätigte Atomtest fand 1996 statt, die USA haben ihre letzten unterirdischen Atomversuche 1992 unternommen. Beide Staaten halten sich formal an das seit Jahrzehnten bestehende Moratorium, ohne jedoch den Teststoppvertrag zu ratifizieren, der das umfassende Verbot von Nuklearversuchen regelt.

Chinas Führung verweist regelmäßig auf ihre „selbstverteidigungsorientierte Nuklearpolitik“ und den Erstschlagverzicht. Unmittelbar vor dem Gipfel mit Trump bekräftigte das Außenministerium diese Linie erneut. Gleichzeitig zertifizierte China zwei neue seismische Überwachungsstationen des internationalen Teststopp-Systems, was UN-Vertreter lobten. Für die chinesische Diplomatie sind solche Momente Teil einer Erzählung, die Verantwortung betont und Vertrauen suggerieren soll.

Nüchtern formuliert, aber geopolitisch unmissverständlich

Doch im Hintergrund vollzieht sich ein Wandel, der die globale Sicherheitsordnung beeinflusst. China verfügt laut SIPRI, dem renommierten Stockholmer Friedensforschungsinstitut, über mittlerweile rund 600 nukleare Sprengköpfe. Seit 2023 wächst das Arsenal um etwa 100 pro Jahr, bis 2030 könnten es rund 1000 sein. Parität mit den USA, die über etwa 5200 Sprengköpfe verfügen, oder Russland (rund 5500) strebt Peking nicht an. Entscheidend ist vielmehr die Fähigkeit zum garantierten Gegenschlag, abgesichert durch neue Silo-Felder im Nordwesten, seegestützte Raketen und luftbasierte Systeme.

Im aktuellen Fünfjahresplan taucht erstmals die Formulierung auf, dass die „strategische Abschreckung“ gestärkt werden müsse – nüchtern formuliert, aber geopolitisch unmissverständlich. Zhao formuliert es so: „Die Führung glaubt, ein größeres und moderneres Arsenal mache China für die USA und ihre Verbündeten unantastbar – und zwinge sie, Pekings Kerninteressen zu respektieren.“

Besorgnis bereitet dem Westen weniger die Zahl der Sprengköpfe als der Mangel an Transparenz. China kommuniziert keine Zielgrößen, keine Obergrenzen, keine Einsatzszenarien. Anders als die USA und Russland, die jahrzehntelang Obergrenzen und Einsatzstrukturen im Rahmen verifizierter Abrüstungsverträge offengelegt haben, gibt China keinerlei Zahlen bekannt. Es setzt auf strategische Ambiguität, die Raum für Interpretationen lässt – und das Risiko von Fehleinschätzungen erhöht. „Diese Unklarheit verschafft Flexibilität“, sagt Zhao, „kann aber auch strategische Missverständnisse begünstigen.“

Die Folgen reichen weit über die chinesisch-amerikanische Konkurrenz hinaus. In Nordkorea dient Chinas nuklearer Ausbau als Argument, das eigene Atomprogramm fortzusetzen und außenpolitisch abzusichern. In Japan und Südkorea gewinnen Stimmen für eigene nukleare Optionen an Gewicht. Indien wird auf Chinas Kapazitäten reagieren, Pakistan wiederum auf Indien. Eine nukleare Kettenreaktion im asiatisch-pazifischen Raum ist keine theoretische Spekulation mehr, sondern ein realistisches Risiko.

Trotzdem bleibt Chinas offizielle Zusage zum Erstschlagverzicht bestehen. Zhao sieht weder Hinweise noch Anreiz für eine öffentliche Abkehr. „Die NFU-Formel bietet China bereits genug Spielraum, in einem Konflikt einen nuklearen Einsatz anzudeuten, ohne ihn auszuführen.“ Solange es bei Signalen bleibe, gelte dies intern nicht als Bruch der Doktrin.

China verweist gerne darauf, die Fehler der Sowjetunion vermeiden zu wollen. Doch das Land steht bereits an einem Punkt, an dem strategische Berechenbarkeit schwindet, nicht zunimmt. Eine Macht, die eine globale Führungsrolle beansprucht, steht vor einer Entscheidung: Machtprojektion durch Schweigen – oder Stabilität durch Regeln. Transparenz, regionale Rüstungsbegrenzungen und Dialog mit anderen Mächten des Erstschlagverzichts wie Frankreich und Großbritannien wären erste Schritte. Noch aber schweigt China über seine Ziele. Doch im Atomzeitalter kann Stille lauter wirken als ein Test. Und gefährlicher.

Christina zur Nedden ist China- und Asienkorrespondentin. Seit 2020 berichtet sie im Auftrag von WELT aus Ost- und Südostasien.

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