Der frühere Bundesaußenminister und SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel ist der Meinung, Angela Merkel (CDU) hätte als Bundeskanzlerin die russische Großinvasion in der Ukraine verhindert. „Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nicht in diesem Krieg gelandet wären“, sagte Gabriel in der ARD-Talksendung „maischberger“.

Mit den Minsker Verträgen habe Merkel „den Krieg acht Jahre hinausgezögert“, so die These des ehemaligen Außenministers. Die Kanzlerin habe 2021 – damals herrschte in der Ostukraine bereits seit Jahren ein Krieg zwischen prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee – persönlich mit Russlands Präsident Wladimir Putin verhandeln wollen. Doch im Europäischen Rat habe nur Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán Merkel unterstützt. „Die Europäer haben sich im Grunde selbst aus dem Spiel genommen“, heute müsse US-Präsident Donald Trump über ein europäisches Problem verhandeln. „Wir selber haben 2021 den Mut dazu nicht gehabt“, sagte Gabriel.

Gabriel nahm damit Bezug auf Merkels Aussagen gegenüber dem ukrainischen Onlinemedium „Partizán“ Anfang Oktober. Darin hatte die ehemalige Kanzlerin das gescheiterte Minsker Abkommen zwar als „alles andere als perfekt“ bezeichnet. Dieses habe nie „richtig gehalten“, wohl aber habe es in den Jahren 2015 bis 2021 „eine Beruhigung“ der schon damals angespannten Lage „herbeigeführt“.

2o21 habe sie dann „gefühlt, dass das Minsk-Abkommen von Putin nicht mehr ernst genommen wird, und deshalb wollte ich ein neues Format, damals gemeinsam mit Präsident Macron, dass wir mit Putin direkt als Europäische Union sprechen“, so Merkel. Eine solche EU-Initiative sei aber nicht zustande gekommen, weil sie von einigen Ländern – Merkel nannte die baltischen Staaten und Polen – nicht unterstützt worden sei. Diese hätten „Angst“ gehabt, „dass wir keine gemeinsame Politik gegenüber Russland haben“. Ihre Meinung sei gewesen, so Merkel weiter, dass dann eben verhandelt werden müsse.

Damit hatte Merkel zumindest angedeutet, dass die besagten Länder in Mittel- und Osteuropa eine Mitverantwortung an der russischen Großinvasion in der Ukraine im Jahr 2022 haben. Es ist eine Darstellung, die die baltischen Staaten entschieden zurückweisen, unter anderem mit Verweis auf die Unzuverlässigkeit von Putins Zusagen in der Vergangenheit.

„Sind aus dem Spiel geflogen“

Gabriel schloss sich bei „maischberger“ allerdings der Darstellung von Merkel zumindest teilweise an. „Die Geschichte zeigt erstmal, dass, dadurch dass man nicht miteinander verhandelt hat, der große Krieg danach gekommen ist. Die geschichtlichen Entwicklungen sind nicht so, dass der große Krieg in der Zeit von Angela Merkel und in der Zeit, in der sie verhandeln wollte, ausgebrochen ist – sondern danach.“ Die EU habe 2021 eine Chance verpasst, glaubt Gabriel. „Ob sie zum Erfolg geführt hätte, das kann heute keiner sagen. Wir können nur sagen: Dadurch dass wir nichts getan haben, sind wir aus dem Spiel geflogen.“

Unter Angela Merkels Kanzlerschaft wurde 2015 das Minsker Abkommen unter Vermittlung der OSZE, Deutschlands, Frankreichs, von Vertretern der Ukraine, Russlands sowie der Separatisten in der Ostukraine unterzeichnet. Es basierte auf dem gescheiterten ersten Minsker Protokoll von 2014 und hatte unter anderem zum Ziel, den Konflikt in der Ostukraine zu beenden, einen Waffenstillstand und Wahlen in den Separatistengebieten sowie eine Verfassungsreform in der Ukraine einzuleiten.

Spätestens mit dem russischen Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 galt Minsk II allerdings als endgültig gescheitert. Als Grund dafür gelten unter anderem gegenseitiges Misstrauen, die anhaltenden Kampfhandlungen und die fehlende Umsetzung zentraler Punkte, etwa der Kontrolle der ukrainisch-russischen Grenze oder der Sonderstatus der Separatistengebiete.

Der Befund des ehemaligen SPD-Außenminister ist auch bemerkenswert vor dem Hintergrund der langjährigen Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas. Merkel hatte auch nach Russlands völkerrechtswidger Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014 unter anderem am geplanten Bau der Pipeline Nordstream 2 festgehalten – selbst dann noch, als westliche Partner, darunter Trump in seiner ersten Amtszeit, eindringlich vor den Risiken gewarnt und von dem Vorhaben abgeraten hatten.

Auf die Frage von Moderatorin Sandra Maischberger, warum Deutschland die Abhängigkeit von russischem Gas so lange aufrechterhielt, führte Gabriel drei Punkte an: ein langanhaltendes Wirtschaftswachstum, die Entscheidung zum Ausstieg aus Kernenergie und Kohle und ein Beschluss der EU von 2002, Energiepolitik zur Privatsache von Unternehmen zu erklären. „Was machen Unternehmen dann, wenn sie selbst verantwortlich für die Energieversorgung sind? Sie holen sich das Preiswerteste, was es auf dem Markt gibt: Das war russisches Pipeline-Gas.“

Auf den Einwand Maischbergers, dass die politischen Verantwortlichen in Deutschland diesen Kurs unterstützt hätten, sagte Gabriel: „Die Politik hat – mit Ausnahme der Grünen – durchgehend diese Politik unterstützt, auch vor dem Erfahrungshintergrund, dass wir Jahrzehnte – selbst in den dunkelsten Zeiten des Kalten Kriegs – aus der damaligen Sowjetunion und später Russland Erdgas bekommen haben. Niemand in Deutschland ist vor dem Erfahrungshintergrund damals zur Überzeugung gekommen, das könnte mal gefährdet sein.“

Er selbst „und Merkel ganz besonders“ hätten aber damals zu denen gehört, die versucht hätten, den damals bereits in der Ostukraine herrschenden Krieg zu beenden, unter anderem, indem sie Putin die Entsendung einer UN-Mission vorgeschlagen hätten. „Er hat uns zugesagt, dass er bei sowas mitmachen würde. Nichts davon ist am Ende wirkungsvoll geworden. Das Ergebnis war, dass spätestens mit der Wahl von Donald Trump (2016, d. Red.) überhaupt nicht mehr darüber geredet wurde, was man international machen könnte, um die vereinbarten Waffenstillstände durchzusetzen.“

Mit den Minsker Verträgen, die er nach wie vor für richtig halte, habe Angela Merkel aber den „großen Krieg“ gegen die Ukraine acht Jahre hinausgezögert. „Ich fand das damals vernünftig, und wir waren der Überzeugung , wir können mit ihm (Putin, d. Red.) Schritte in die Richtung weitergehen.“ Dass der russische Präsident Putin die gesamte Ukraine und „eigentlich den Westen insgesamt“ angreifen würde, habe damals keiner vorausgesagt.

Ukraine ist „sehr weit weg von der Prioritätenliste“ Trumps

In Bezug auf die aktuelle Situation in der Ukraine sagte Gabriel: „Wenn wir heute gucken, was am Ende von Verhandlungen stehen könnte in der Ukraine, dann sind wir hoffentlich soweit, dass wir wenigstens das retten können, was in den Minsker Verträgen verabredet wurde.“ Zurzeit sehe es aber „schlechter“ aus.

Die Ukraine befinde sich zudem „sehr weit weg von der Prioritätenliste des amerikanischen Präsidenten“. Das sei schon 2016 so gewesen, als ihm Trump gesagt habe, dass es sich um ein „europäisches Problem“ handle. Nun stelle sich die Frage, wie lange die Geduld des US-Präsidenten mit den Europäern noch anhalten werde. „Wir wissen ganz genau, dass wir ohne die amerikanische Hilfe in der Ukraine die Russen nicht aufhalten können. Wer will, dass die Ukraine nicht verliert, der muss darum ringen, dass ihr die Amerikaner weiter zur Seite stehen“, so Gabriel.

Deutschland mache „mehr als alle anderen, aber es gibt Fähigkeiten, die wir nicht haben, deswegen brauchen wir Amerika“. Der Ex-Außenminister spielte damit etwa auf die Kompetenzen der amerikanischen Geheimdienste an. „Eins ist klar: Wir brauchen ihn (Trump, d. Red.) und sollten alles dafür tun, dass die Situation, die in Washington erreicht schien zwischen den Europäern und ihm, dass die wieder hergestellt wird“.

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