Eine Schulklasse steht am Eingang des Parlamentsgebäudes in Den Haag, nicht weit vom Hauptbahnhof. Unter dem wellenförmigen, goldfarbenen Vordach redet eine Lehrerin den Schülern ins Gewissen. „Kinder! Auf einige Dinge wird hier sehr streng geachtet. Also benehmt euch.“ Die Gruppe von Teenagern kichert. Die Sonne spiegelt sich in den Fenstern des Parlaments, der Tweede Kamer – der Zweiten Kammer. Aber irgendwo in diesem Gebäude arbeiten die sozialliberale Partei D66 und die christdemokratische CDA an der Bildung einer gemeinsamen Regierung.
Der D66-Vorsitzende Rob Jetten (38) gewann die Wahlen im Oktober. Seine Partei erhielt 26 der 150 Sitze in der Kammer – ein sehr knapper Sieg, denn die PVV von Geert Wilders erzielte genauso viele. Der rechtsradikale Politiker verlor allerdings elf Sitze und wird nicht in der neuen Regierung vertreten sein, da sowohl D66 als auch CDA nicht mit Wilders zusammenarbeiten wollen. Sie hatten im Wahlkampf eine Brandmauer hochgezogen – die beim Wähler gut ankam.
Ebenfalls in Den Haag arbeitet Pieter Gerrit Kroeger (69) bei der Strategieberatungsfirma PBLCO. Er ist Politikhistoriker und analysiert die nationale und internationale Politik in seinem Podcast. Die alte Regierung von Premierminister Dick Schoof zusammen mit Wilders bezeichnet er als „völlig gescheitert“. Und das sei absehbar gewesen. „Die Vorstellung, dass man mit einer autokratischen, fremdenfeindlichen Bewegung wie der PVV – keine politische Partei, da Herr Wilders ihr einziges Mitglied ist – ein vielfältiges, urdemokratisches Land wie die Niederlande regieren könnte, hat sich als Irrtum erwiesen.“
Über die Qualität des Ministerteams urteilt Kroeger gnadenlos („Das schlechteste in der niederländischen Geschichte“) und lässt auch an Schoof kein gutes Haar: „Sie haben eine Schaufensterpuppe engagiert statt eines politischen Führers.“ Für diese Misswirtschaft haben alle Koalitionsparteien einen Preis bezahlt – aber ist Wilders nun entzaubert? „Nein“, sagt Kroeger. „Er hat allerdings einen enormen Rückschlag erlitten.“
Auch René Cuperus glaubt nicht, dass Wilders seine Anziehungskraft auf die niederländischen Wähler verloren hat – das sei „deutsches Wunschdenken“ Kulturhistoriker Cuperus ist Experte bei Clingendael, einem Institut für internationale Beziehungen. Der 65-Jährige erzählt, wie er am Wahltag mit deutschen Journalisten gesprochen habe: „Mir fiel auf, mit welcher Euphorie die Deutschen in die Niederlande kamen. Es war klar, dass sie mit der Geschichte nach Hause gehen wollten, dass die populistische Rechte besiegt worden sei, um so die AfD-Panik im eigenen Land zu beschwichtigen.“
Der Grund dafür, dass D66 30.000 Stimmen mehr als die PVV erhalten hat, liegt laut Cuperus bei Parteichef Rob Jetten. „Er hatte den Mut, in einer Fernsehdebatte zu Wilders zu sagen: ‚Ihre Zeit ist vorbei, wir werden Sie besiegen.‘ Andere Parteien waren dafür zu verkrampft.“
Auch in Deutschland sieht er, dass Politiker sich gegenüber der AfD machtlos fühlen. Dabei sei das unnötig. „Der Mangel an Selbstvertrauen der traditionellen Regierungsparteien nährt den Populismus. Der Erfolg von Jetten ist ein Signal für Deutschland: Man muss Rechtspopulisten mit viel mehr Mut bekämpfen.“ Man müsse sich gegen ihre aggressive Politik wehren, aber die von ihnen angesprochenen Probleme ernst nehmen.
„Jetten hat auch deswegen gegen Wilders gewonnen, weil er sich nach rechts bewegt hat, indem er die niederländische Flagge umarmt und seine Haltung zum Asylrecht verschärft hat“, so Cuperus. Darüber hinaus habe die Wiederherstellung einer Brandmauer geholfen: „Abgesehen davon, dass die PVV-Wähler gesehen haben, dass Wilders nicht regieren konnte, wussten sie auch, dass eine Stimme für ihn sinnlos wäre.“
Cuperus sieht die Unterstützung für rechtspopulistische Politiker wie Wilders als eine Stimme gegen das Establishment. „Seine Wähler wissen, dass er kein geeigneter Ministerpräsident ist. Indem sie ihn wählen, fordern sie die etablierte Politik auf, sein Programm umzusetzen und eine viel härtere Migrationspolitik zu betreiben.“
Aber spielen die etablierten Parteien dem Rechtspopulismus nicht in die Hände, wenn sie das tun? Cuperus: „Nein. Das ist die These linker Professoren an den Universitäten. Sie ignorieren, dass Rechtspopulismus auch eine Klassenfrage ist. Praktisch ausgebildete Menschen wählen populistisch rechts, links gibt es nur noch für Hochgebildete.“
Rechtspopulismus füllt ein Vakuum
Innerhalb Europas stehe die deutsche Politik vielleicht noch am besten da, ist sich Politikberater Cuperus sicher: „Meiner Meinung nach füllt der Rechtspopulismus das Vakuum, das durch das Verschwinden der großen Volksparteien entstanden ist. Und Deutschland hat noch die CDU/CSU und die SPD – obwohl letztere dramatisch geschrumpft ist. Ich halte Volksparteien für grundlegend für die Stabilität des demokratischen Rechtsstaats, für die soziale Mittelschichtgesellschaften, die wir nach dem Krieg in Europa aufgebaut haben.“
Auch Politikhistoriker Kroeger meint, die Deutschen müssten sich wegen der Reibereien zwischen den Koalitionspartnern in Berlin keine Sorgen machen. „Natürlich streiten sich SPD und CDU/CSU gelegentlich. Politik darf auch mal aneinandergeraten, und die Wähler dürfen murren. Ich würde sagen: Genießt es.“ Alles sei besser als ein populistisches Experiment: „Es ist lebensgefährlich, mit dem Staat zu spielen.“ Wilders habe seine Koalitionspartner ständig gedemütigt – und sogar den Ministerpräsidenten.
Rechtspopulistische Parteien wie die PVV sind nach Einschätzung Kroegers nicht in der Lage, demokratisch zu regieren, weil sie die Welt in überlegene und minderwertige Menschen einteilen. „Sie sind Sozialdarwinisten. Nur Gewinner haben recht, Verlierer müssen sterben. Deshalb sage ich der CDU/CSU und der SPD: Ihr müsst es gemeinsam schaffen.“ Das sei möglich, man brauche sich nur einige Städte und Bundesländer anzuschauen. „Um den ehemaligen SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt zu zitieren: ‚Es ist eure verdammte Pflicht.‘“
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