Im letzten Moment bemerkte der Lokführer die zerstörten Gleise, eine Explosion hatte sie zuvor weggesprengt. Die Strecke zwischen Warschau und Lublin im Südosten Polens konnte gerade noch rechtzeitig gesperrt werden. Als Attentäter identifizierten die polnischen Geheimdienste schnell zwei Ukrainer, die mutmaßlich im Auftrag Russlands standen. Sie sollen sich ins benachbarte Belarus abgesetzt haben.
Laut polnischer Regierung war das Ziel der Saboteure nicht nur die Gleisanlage, sondern der Zug selbst. Schlimmeres konnte also gerade noch verhindert werden. Auf der Trasse werden Hilfsgüter für die Ukraine transportiert, auch militärische. Von der Großstadt Lublin aus sind es weniger als hundert Kilometer in das von Russland angegriffene Nachbarland.
Der Vorfall vom 17. November – in den Worten der polnischen Staatsanwaltschaft „ein Sabotageakt terroristischer Art“ – machte auch international Schlagzeilen. Es sind Fälle wie dieser, Eskalationen oder Höhepunkte in Russlands hybridem Krieg gegen Polen oder andere Nato- und EU-Länder, die regelmäßig nach außen dringen.
Auch die Bundesregierung beobachtet nach eigenen Angaben seit geraumer Zeit eine Zunahme hybrider Bedrohungen durch Russland. Nachdem ein großer Cyberangriff und eine Desinformationskampagne im Bundestagswahlkampf Moskau zugeordnet werden konnten, war am Freitag der russische Botschafter einbestellt worden. Die „gezielte Informationsmanipulation“ reihe sich in eine Serie von Aktivitäten ein, die das Ziel hätten, das Vertrauen in demokratische Institutionen und Prozesse in Deutschland zu untergraben, teilte das Auswärtige Amt mit.
Polen, Frontstaat an der Nato-Ostgrenze und einer der entschiedensten Unterstützer der Ukraine, sieht sich beinahe täglich mit Versuchen von Spionage, Sabotage und Cyberangriffen konfrontiert, wie WELT aus Sicherheitskreisen bestätigt wurde.
Dazu zählen Ereignisse, die auch außerhalb des Landes Schlagzeilen machten, wie der Drohnenangriff im September, bei dem mindestens 19 russische Drohnen, unter anderem Kamikaze- oder Aufklärungsdrohnen vom Typ Gerbera, in den polnischen Luftraum eingedrungen waren. Dazu Luftraumverletzungen durch Marschflugkörper oder aber der Brandanschlag auf das Marywilska-Einkaufszentrum in Warschau im Mai 2024.
Die Mehrheit der Attacken findet weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt – doch die Geheimdienste registrieren jede von ihnen genau: Die Täter sind nicht ausschließlich Spione, die direkt einem ausländischen Dienst unterstehen. Immer häufiger kommen „Wegwerfagenten“ zum Einsatz: Personen, die zum Beispiel über Messenger-Dienste wie Telegram kontaktiert werden, um für Geld eine Tat wie einen Brandanschlag auszuführen.
Bisweilen ahnen sie nicht einmal, in wessen Auftrag sie handeln. Nach der Ausweisung von Mitarbeitern russischer diplomatischer Vertretungen in Europa beobachten die Geheimdienste verstärkt Rekrutierungen solcher Agenten.
Unklar ist bislang, ob die drei Männer, die vergangene Woche in Warschau in Haft genommen wurden, zu dieser Kategorie zählen. Das Fahrzeug der Ukrainer im Alter von 39, 42 und 43 Jahren wurde von einer Sondereinheit der Polizei angehalten. Die Männer behaupteten, „durch Europa“ zu reisen und auf dem Weg nach Litauen zu sein. Bei sich hatten sie ausgefeilte Hacker-Ausrüstung, mit der sie in strategisch wichtige IT-Systeme für die Landesverteidigung hätten eindringen können.
Viele Sabotageakte werden vereitelt, dabei sind vor allem die polnischen Geheimdienste gefordert. Sie verfügen über polizeiliche Kompetenzen, dürfen also nicht nur Informationen sammeln, sondern auch Personen festnehmen. Gerade der Inlandsgeheimdienst ABW ist für sein robustes Vorgehen bekannt.
Polens Dienste seien im Kampf gegen Bedrohungen für Polen und Europa von Osten her „an vorderster Front“ im Einsatz, sagte Tomasz Siemoniak, Geheimdienstkoordinator der polnischen Regierung, zuletzt im Interview mit WELT. Er überblickt im Rang eines Ministers unter anderem die Arbeit der drei großen Dienste: die des ABW, des Auslandsnachrichtendienstes AW und des Dienstes für militärische Gegenspionage, SKW.
Aktuell laufen seitens des ABW gegen 78 Verdächtige Verfahren wegen Spionage oder Sabotage. „Von diesen Personen sind 72 nach Artikel 130 des polnischen Strafgesetzbuches angeklagt“, erklärt Jacek Dobrzynski, Sprecher des Geheimdienstkoordinators und damit der polnischen Dienste, auf Anfrage von WELT.
Unter Artikel 130 ist der Straftatbestand der Spionage geregelt. Abhängig vom genauen Tatbestand drohen einem Angeklagten mindestens acht Jahre Haft, oft zwanzig Jahre, bis hin zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
„Bislang wurden mehr als 60 Personen festgenommen“, sagt Sprecher Dobrzynski. Darunter sind russische, belarussische und ukrainische Staatsbürger. Dass eine Staatsbürgerschaft oft nichts darüber aussagt, in wessen Dienst jemand steht, zeigt die Tatsache, dass in Polen inzwischen vermehrt „Wegwerfagenten“ aus Südamerika auftauchen. Dobrzynski etwa bestätigt die Festnahme eines Kolumbianers.
Die Verdächtigen sind oft besonders lange in Untersuchungshaft, bisweilen wird eine spezielle polnische Form der „Erzwingungshaft“ angewandt. Diese Maßnahmen und die harten Strafen sollen eine abschreckende Wirkung erzielen.
In Deutschland fallen Strafen bei Spionage oder Sabotage wesentlich geringer aus. Für die Weitergabe von Informationen können auch nur Geldstrafen verhängt werden, bei Landesverrat drohen mehrere Jahre Haft, unter Umständen aber auch nur ein Jahr. Fünf oder zehn Jahre gelten bereits als hart. In Polen ist dies das untere Ende der Skala.
Polen steht im Zentrum der russischen Sabotage
Ein komplettes Bild über Spionageversuche, Anschläge oder vereitelte Anschläge gibt es nicht. Nicht in Polen, aber auch nicht in Deutschland oder Frankreich. Vielfach werden diese Information als geheim eingestuft. Anhand der bekannten Fälle lässt sich aber sagen, dass Polen im Zentrum von Russlands hybridem Krieg steht – dafür steht die Zahl, aber auch die Intensität der Fälle.
Der Grund dafür ist Polens Rolle bei der Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland. Polen ist das größte Land an der Nato-Ostflanke, der Frontstaat. Der mit Abstand größte Teil westlicher Waffenlieferungen für die Ukraine wird über Polen abgewickelt.
Unentbehrlich ist dabei der Flughafen Rzeszow-Jasionka unweit der ukrainischen Grenze. Bei dem Eindringen russischer Drohnen im September sollen mehrere von ihnen auf das Drehkreuz zugeflogen sein. Es sei ein Test gewesen, heißt es heute aus Sicherheitskreisen. Rzeszow-Jasionka wird unter anderem mit deutschen Patriot-Flugabwehrsystemen gesichert.
Gleichzeitig hat Polen die meisten ukrainischen Flüchtlinge aufgenommen. Es gibt viele russischsprachige Menschen im Land. Unter ihnen werden „Agenten“ angeworben. Es sind unter anderem Jugendliche, die für wenig Geld Fotos von Gleisanlagen, Flughäfen oder Militärtransporten machen. Bezahlt werden sie mutmaßlich nicht nur in Zloty, sondern auch mit Kryptowährungen.
Premierminister Donald Tusk machte für das Parlament erst kürzlich geheime Informationen zugänglich, wonach sich ganze Agentennetze über Kryptozahlungen finanzieren. Es ist der Grund, warum die polnische Regierung ihr Gesetz zu Kryptowährungen reformieren möchte. Staatspräsident Karol Nawrocki blockiert dies bislang.
Kaum ein Beobachter rechnet damit, dass die hybriden Angriffe auf Polen bald nachlassen. Das Land wird dabei zunehmend zu einem Schutzschild für Europa in einem Krieg, der auch mit Agenten ausgefochten wird.
Philipp Fritz berichtet im Auftrag von WELT seit 2018 als freier Korrespondent in Warschau über Ost- und Mitteleuropa.
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