Zwei Tage nach dem Terroranschlag am Bondi Beach mit 15 Opfern ringt Australien noch immer um Fassung. Während mehr als zwei Dutzend Verletzte in den Krankenhäusern um ihr Leben kämpfen – darunter einer der Attentäter – beginnen Ermittler, die Geschichte einer fatalen Radikalisierung zu rekonstruieren.
Als Naveed Akram am Sonntag seine Mutter anrief, klang alles nach einem entspannten Wochenendausflug. „Mama, ich bin nur schwimmen gegangen. Ich bin tauchen gegangen“, sagte der 24-Jährige laut seiner Mutter Verena. Die Familie glaubte, Vater und Sohn seien zum Angeln gefahren, berichtet die lokale Tageszeitung „Sydney Morning Herald“.
Doch in Wahrheit hielten sich Naveed und sein Vater Sajid, 50, in einem kleinen grauen Backsteinhaus im Sydney-Stadtteil Campsie auf – kurz bevor sie das Feuer auf eine Chanukka-Feier am Bondi Beach eröffneten und 15 Menschen töteten. Sajid selbst kam ebenfalls ums Leben – er wurde von der Polizei erschossen, Naveed liegt schwer verletzt im Krankenhaus.
Zwei Tage nach dem Anschlag fügen Ermittler nun die Puzzleteile zusammen und enthüllen die Geschichte zweier Männer, die mit der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) sympathisierten – ohne dass die Behörden sie davon abhalten konnten.
Ein Jugendlicher im Bann des Extremismus
Naveed Akram war erst 17 Jahre alt, als er auf den Straßen West-Sydneys missionierte. Der australische Sender ABC hat Videos enthüllt, die zeigen, wie er Passanten anspricht und verkündet: „Das Gesetz Allahs ist wichtiger als alles andere, was man zu tun hat – Arbeit, Schule … ich kann es nicht genug betonen.“ In einem anderen Video fordert er Menschen auf, „die Botschaft zu verbreiten, dass Allah der Eine ist“ und verspricht: „Inshallah, das wird dich am Tag des Jüngsten Gerichts retten.“
Diese Aufnahmen stammen aus dem Jahr 2019 – just aus der Zeit, als Naveed Akram erstmals ins Visier des australischen Geheimdienstes Asio geriet. Wie Australiens Premierminister Anthony Albanese in einem separaten ABC-Interview bestätigte, untersuchte der Geheimdienst ab Oktober 2019 die Verbindungen des damals 18-Jährigen zu einer IS-Terrorzelle in Sydney.
Doch nach sechs Monaten stellte Asio die Ermittlungen ein. „Er wurde auf der Grundlage seiner Verbindungen zu anderen untersucht, und die Einschätzung war, dass es keine Hinweise auf eine anhaltende Bedrohung gab“, so Albanese. Es seien „keine Beweise“ dafür gefunden worden, dass Vater oder Sohn radikalisiert worden seien.
Das gefährliche Netzwerk
Dabei waren Naveeds Verbindungen zu extremistischen Kreisen offenbar weitreichend. Wie Beamte der Terrorismusbekämpfung gegenüber ABC enthüllten, war der junge Mann ein Gläubiger im Al Madina Dawah Centre im Sydney-Stadtteil Bankstown – dem Gebetszentrum des berüchtigten Predigers Wisam Haddad.
Eine Untersuchung des Investigativ-Programms „Four-Corners“ identifizierte Haddad als geistlichen Führer von Australiens Pro-IS-Netzwerk. Der Prediger ist bekannt für antisemitische Vorträge; im Juli stellte das Bundesgericht fest, dass er gegen das Rassendiskriminierungsgesetz verstoßen hatte.
Schon 2020 schrieb die Organisation „Australia/Israel & Jewish Affairs Council“ über Haddad, dieser sei „eine zentrale Figur in der radikalen salafistischen und dschihadistischen Gemeinschaft in Australien und unter den englischsprachigen Dschihadisten in den sozialen Medien“.
Über einen Anwalt ließ Haddad mitteilen, er „bestreitet vehement jegliches Wissen über oder Beteiligung an den Schießereien am Bondi Beach“.
Naveed Akram jedenfalls arbeitete als Straßenprediger für Haddads Dawah Van-Organisation, die im Juni ihren Wohltätigkeitsstatus verlor, nachdem bekannt wurde, dass sie junge Australier radikalisierte. Unter Akrams Bekannten befand sich Isaac El Matari, der später zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, weil er sich zum australischen IS-Kommandeur erklärt hatte. Auch zu Youssef Uweinat, einem IS-Jugendrekrutierer, der Minderjährige zu Angriffen ermutigt hatte, pflegte Naveed Kontakte. Im Auto der Attentäter fanden Ermittler neben selbstgebauten Sprengkörpern auch zwei IS-Flaggen.
Die Reise auf die Philippinen
Bekannt ist inzwischen auch, dass Vater und Sohn Anfang November – etwa einen Monat vor dem Anschlag – nach Manila gereist sind, wie Sicherheitsexperten gegenüber ABC bestätigten. Von dort begaben sie sich in den Süden der Philippinen, um eine „militärische Ausbildung“ zu absolvieren, so ein hochrangiger Beamter der Terrorismusbekämpfung. Die Region ist seit den 1990er-Jahren ein Hotspot für islamistische Militante. Ende November kehrten die beiden nach Australien zurück.
Nach außen führte Naveed A. allen Anschein nach aber ein unauffälliges Leben. Der arbeitslose Maurer hatte seine Stelle vor zwei Monaten verloren, als die Firma insolvent wurde. Seine Mutter Verena beschrieb ihn gegenüber dem „Sydney Morning Herald“ als nicht besonders gesellig, jemanden, der nicht viel Zeit online verbringe und Angeln, Tauchen und Sport liebe. Er lebte mit seinen Eltern und zwei jüngeren Geschwistern im Sydney-Stadtteil Bonnyrigg.
Sein Vater Sajid war 1998 mit einem Studentenvisum nach Australien gekommen und später zur Heirat auf ein Partnervisum gewechselt, wie Australiens Innenminister Tony Burke mitteilte. Aus welchem Land er ursprünglich stammt, machte Burke nicht bekannt. Sajid war seit einem Jahrzehnt lizenzierter Waffenbesitzer. Sechs der beim Anschlag verwendeten Waffen waren registriert.
Dass ein Mann, dessen Sohn solch weitreichende extremistische Kontakte pflegte, legal Waffen besitzen durfte, wirft grundsätzliche Fragen auf. „Das ist ein Versagen des Systems“, sagte John Coyne, Direktor für Nationale Sicherheit am Australian Strategic Policy Institute (ASPI), gegenüber ABC. Er fordert eine Kommission, um nicht nur den Anschlag zu untersuchen, sondern auch „den zunehmenden Antisemitismus, die Hassrede, die ideologisch motivierten Verbrechen, die als Meinungsfreiheit entschuldigt wurden“.
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