Der EU-Kommissar für Energie, Dan Jørgensen, drängt auf eine Neufassung der europäischen Lieferkettenrichtlinie, um ein drohendes Flüssiggas-Embargo aus den USA und Katar abzuwenden. „Leider hat das Parlament den vor einigen Wochen erzielten Kompromiss abgelehnt“, sagte Jørgensen am Dienstag am Rande des WELT-Sicherheitsgipfels in Berlin. „Nun wird verhandelt, und wir hoffen sehr, dass eine Lösung gefunden wird, denn es handelt sich in der Tat um ein Problem.“
Hintergrund ist die Weigerung der beiden wichtigen Energieproduzenten, Europa weiter zu versorgen, wenn die Umwelt- und Klimaauflagen der Lieferkettenrichtlinie („Corporate Sustainability Due Diligence Directive“, CSDDD) in Kraft bleibt. Nach dem Emirat Katar stellen jetzt auch die USA ihre Flüssiggas-Lieferungen an die Europäer infrage.
Die Europäische Union hatte im Mai beschlossen, sich bis 2027 von russischen LNG-Lieferungen („Liquefied Natural Gas“, verflüssigtes Erdgas) unabhängig machen zu wollen. Ohne Ersatzlieferungen aus den USA und Katar gilt der Plan unter Experten als aussichtslos.
Drohung aus Katar und den USA
Die Lieferkettenrichtlinie „beeinträchtigt ernsthaft die Fähigkeit der amerikanischen, katarischen und der internationalen Energiewirtschaft, ihre Partnerschaften und Aktivitäten innerhalb der EU aufrechtzuerhalten und auszubauen“, heißt es in einem gemeinsamen Schreiben des Energieministers der USA, Chris Wright, und des Energieministers von Katar, Saad Sherida Al-Kaabi, das Ende Oktober allen Regierungschefs der EU zuging. Es liegt WELT vor.
Das Schreiben enthält eine fast unverhohlene Drohung der wichtigsten Flüssiggas-Exporteure, ihre Liefermengen nach Europa einzufrieren oder sogar ganz zu stoppen. Das Festhalten der EU an der Nachhaltigkeitsrichtlinie „stellt ein erhebliches Risiko für die Bezahlbarkeit und Zuverlässigkeit der Versorgung mit kritischen Energiequellen für Haushalte und Unternehmen in ganz Europa dar“, heißt es in dem Brief Wrights und Al-Kaabis an die Regierungschefs. Die CSDDD sei „eine existenzielle Bedrohung für das zukünftige Wachstum, die Wettbewerbsfähigkeit und die Widerstandsfähigkeit der industriellen Wirtschaft der EU.“
Die Lieferkettenrichtlinie der EU greift praktisch direkt in die Gesetzgebung anderer Staaten ein: Von den Energielieferanten wird in Artikel 22 etwa gefordert, dass sie Pläne zur Erreichung von Klimaneutralität bis 2050 vorlegen und sich dem Zwei-Grad-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens von 2015 verpflichten.
Weder die USA noch Katar streben allerdings Klimaneutralität bis 2050 an, die USA sind aus dem Pariser Klimaabkommen sogar vollständig ausgestiegen. Der katarische Energieminister hatte bereits im vergangenen Jahr geltend gemacht, sein Energiekonzern Qatargas müsse eigene Landesgesetze brechen, wenn er die EU-Auflagen erfüllen wolle.
Die EU erwartet von ihren Energielieferanten darüber hinaus, dass sie bei Nichtbeachtung der Klimaauflagen Strafzahlungen in Höhe von bis zu fünf Prozent ihres globalen Umsatzes akzeptieren. Auch sollen die Lieferländer für Umweltschäden haftbar gemacht werden können (Artikel 29). Staaten wie die USA oder Katar würden sich nach dieser Vorschrift den potenziell milliardenschweren Klagen von Klimaschutz-Aktivisten aussetzen.
Katars Energieminister Al-Kaabi hatte bereits vor Monaten öffentlich erklärt, sein Land werde kein LNG mehr in die EU liefern, sollte es dort mit Strafzahlungen bedroht werden.
Flüssiggas-Importe per Tankschiff deckten im vergangenen Jahr 37 Prozent des europäischen Gasbedarfs. Die USA hatten 2024 den größten Anteil mit 45 Prozent der Liefermengen. Im Oktober stammten sogar 60 Prozent der importierten LNG-Mengen aus den USA.
Katar hatte im vergangenen Jahr einen Anteil von 13 Prozent an den LNG-Importen der EU. Dies entsprach zwar nur rund vier Prozent aller europäischen Erdgas-Einfuhren. Doch baut das Emirat, das über einige der größten Ressourcen der Welt verfügt, seine Export-Kapazitäten weiter aus.
Weil die EU-Kommission im Mai beschlossen hatte, sämtliche Flüssiggas-Importe aus Russland bis 2027 zu unterbinden, ist es dabei auf Ersatzlieferungen aus Katar und den USA dringend angewiesen. Denn auch die starke Abhängigkeit von norwegischen Pipeline-Lieferungen, die rund ein Drittel des europäischen Bedarfs decken, sollen nicht weiter vergrößert, sondern eher reduziert werden.
Der drohende LNG-Lieferstopp dürfte auch ein Grund für die Katar-Reise von Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) an diesem Wochenende sein. Deutschland ist einer der größten Gasimporteure der Welt. Mehr als 55 Prozent der Wohnungen heizen mit Erdgas, zudem wird der Energieträger auch als Grundstoff von der Chemieindustrie benötigt. Als Brennstoff für die geplanten rund 40 neuen Gaskraftwerke ist Erdgas ebenso unverzichtbar wie für die Klimaschutzziele der Stahlindustrie, die im Herstellungsprozess Kokskohle durch Erdgas ersetzen will.
Doch Reiches Möglichkeiten, Al-Kaabi zu besänftigen, sind begrenzt: Die Reform der Lieferkettenrichtlinie muss von Brüssel geleistet werden. Die EU-Kommission hatte im sogenannten Omnibus-Verfahren als Kompromiss zwischen Klimaschützern und Industrieinteressen eine Abschwächung der Lieferkettenrichtlinie vorgeschlagen.
„Wir sollten es immer ernst nehmen, wenn unsere Partner weltweit auf etwas Hinweisen, das nach ihrer Meinung ein echtes Problem darstellt“, sagte EU-Kommissar Jørgensen im Gespräch mit WELT. Die Lieferkettenrichtlinie sei nicht nur für Lieferländer wie USA und Katar ein Problem, sondern auch für die eigene Industrie: „Für alle Unternehmen ist es wichtig, nicht zu viel Bürokratie und zu viele restriktive Regeln zu haben.“
Die EU-Kommission wolle die Lieferkettenrichtlinie deshalb reformieren. Nun allerdings liege der Ball im Feld des EU-Parlaments – das sich bislang nicht auf einen Kompromiss einigen konnte.
Dabei reicht auch der Kompromissvorschlag der EU-Kommission nicht aus, die Vorbehalte der Amerikaner und Katarer zu zerstreuen. Die vorgeschlagene Vereinfachung der Lieferkettenrichtlinie im sogenannten europäischen „Omnibus-Verfahren“ bleibe „weit hinter den Erfordernissen zurück“, heißt es im Schreiben der Energieminister aus USA und Katar: „Keiner der Streitpunkte wurde ausreichend adressiert.“
Werden die Klimaschutz-Vorgaben nicht entschärft, stehen den Lieferländern USA und Katar mehrere Reaktionsmöglichkeiten offen. Denn sollten US-Gaskonzerne wegen der Lieferkettenrichtlinie weniger LNG nach Europa liefern, droht auch der „Zoll-Deal“ zu scheitern, den EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit US-Präsident Donald Trump verhandelt hatte.
Möglicher Vorwand für neue Trump-Zölle
Darin hatte sich die EU verpflichtet, innerhalb von drei Jahren „Energie“ im Wert von 750 Milliarden Dollar aus den USA zu importieren. Wird diese Marke nicht erreicht, weil die europäischen Klimaschutzregeln US-Lieferanten abschrecken, hätte Trump einen Vorwand, den Zoll-Deal für gescheitert zu erklären und zusätzliche Grenzabgaben einzuführen.
Der Verband „Die Gas- und Wasserstoffwirtschaft“ kritisierte, dass die EU-Kommission monatelang nicht auf die Beschwerden Katars, der USA und ihrer europäischen Handelspartner reagiert habe. Dies habe das Emirat jetzt „geradezu in eine koordinierte Vorgehensweise mit den USA hineingedrängt“, sagte Vorstand Timm Kehler.
Denkbar sei nun, dass Katar sich als Reaktion auf die Lieferkettenrichtlinie von Europa abwenden und sich auf Abnehmer ins Asien konzentrieren könnte. „Das wäre eine schlechte Nachricht für den Wettbewerb und damit für die Gaspreise in der Europäischen Union.“
In der Energiepolitik werden hinter vorgehaltener Hand auch immer wieder Befürchtungen laut, dass große Exporteure den Weltmarkt für LNG mit vertraglichen „destination clauses“ praktisch unter sich aufteilen könnten. Ziehen sich bestimmte Lieferländer vom europäischen Markt zurück, wäre die Union einer größeren Preissetzungsmacht der verbleibenden Anbieter ausgeliefert.
Der Schaden könnte noch größer werden. Die Europäer könnten wegen der Lieferkettenrichtlinie auch außerhalb des Energiebereichs Handelspartner verlieren, mahnen Wright und Al-Kaabi: „Die Bedenken werden in der globalen Wirtschaft weitgehend geteilt; sie reichen weit über den Energiesektor hinaus und beschränken sich nicht auf die Vereinigten Staaten und Katar“, heißt es in dem Schreiben: „Auch prominente europäische Unternehmen und Branchenverbände haben ernsthafte Vorbehalte hinsichtlich der Auswirkungen der Richtlinie auf die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit und die Energiesicherheit der EU geäußert.“
Ohne zusätzliche Mengen aus den USA und Katar kann die Europäische Union ihren Beschluss, sich bis 2027 von russischen LNG-Tankerlieferungen unabhängig machen, nicht umsetzen. Nach den Zahlen der europäischen Denkfabrik Bruegel kamen im Oktober dieses Jahres immerhin noch rund zehn Prozent der europäischen LNG-Importe aus Russland.
Wenn die USA, Katar und andere Lieferanten nicht noch abspringen, sieht die EU hohe Chancen, vom russischen Flüssiggas loszukommen. „Wir sind auf einem guten Weg“, sagte EU-Energiekommissar Jørgensen in Berlin. „Alles in allem sind wir zuversichtlich, dass wir die Abkehr vom russischen Gas so gestalten können, dass kein Land Versorgungsengpässe befürchten oder mit starken Preissteigerungen konfrontiert sein wird.“
So sei es der EU gelungen, die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen von rund 45 Prozent im Jahre 2022 auf nur noch 10 bis 13 Prozent zu verringern. Auch sei die Reduktion des Gasverbrauchs in der Union um 15 Milliarden Kubikmeter „durchaus beachtlich“, sagte Jørgensen. Allein diese Einsparung entspreche einem Großteil der russischen Gaslieferungen von 36 Milliarden Kubikmetern im vergangenen Jahr.
Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und „Business Insider Deutschland“ erstellt.
Daniel Wetzel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet über Energiewirtschaft und Klimapolitik. Er wurde 2007 vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI) mit dem Robert-Mayer-Preis ausgezeichnet und vom Energiewirtschaftlichen Institut an der Universität Köln 2009 mit dem Theodor-Wessels-Preis.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.